Diskussionsbeiträge
der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 53, 2004
Südkurier, 06.0.1965
Die dünne
Decke
Durch
einen purpurroten Vorhang betritt der Staatspräsident den Saal des Pariser
Elysee-Palasts; mit rotem Samt ist der Rednertisch bekleidet, an dem er Platz
nimmt; der Stuhl, auf den er sich setzt, hat einen thronartigen Charakter; schwere
prächtige Kristall-Leuchter hängen von der Decke des riesigen Raumes,
in dem an die tausend Menschen, Journalisten und Diplomaten bereit sitzen, um
zu hören, was de Gaulle erzählen wird.
So schildert ein Zuschauer die Szene bei der Pressekonferenz, die der französische
Staatschef am Donnerstag abhielt.
Das Weiße Haus in Washington, Sitz des USA-Präsidenten, beherbergt
ein winziges Kinotheater. In diesem kleinen, einfachen Raum hatten sich an die
150 Journalisten versammelt, als an dem gleichen Tag Johnson zur Presse und
damit zur Öffentlichkeit sprach.
Zwei Hauptstädte, zwei
Länder, zwei Stile des Regierungssystems.
Legt man nebeneinander, was de Gaulle und Johnson sagten,
so zeigt sich mindestens in einem Punkt, daß die Meinungen gar nicht so
sehr voneinander abweichen. De Gaulle sowohl wie
Johnson glauben, daß die Weltpolitik durch Gespräche zwischen der
Welt abendländischer Kultur und der Welt des kommunistischen Ostens weiter
gebracht werden soll und nur auf einem solchen Wege weitergebracht werden kann.
Schon im Wegverlauf aber weichen beide voneinander ab. De Gaulle will das kommunistische
China zum gleichwertigen Partner einer Konferenz machen, in der auch die Sowjets,
die USA und England sitzen und in der Frankreich gewissermaßen als der
Sprecher des westlichen Europa auftritt. Johnson aber will das Gespräch
durch einen Besuchsaustausch zwischen Washington und Moskau in Gang bringen
- jenem Moskau, mit dem Peking nun seit Jahr und Tag in Konkurrenz und schwerer
Auseinandersetzung steht.
De Gaulle setzt also darauf,
einen West-Ost-Ausgleich eher erzielen zu können, wenn er China ins Spiel
bringt. Johnson setzt darauf, den West-Ost-Ausgleich zu fördern, wenn er
Moskau aufwertet, Peking aber unbeachtet läßt.
Sowohl De Gaulle wie Johnson betrachten den West-Ost-Ausgleich als den ersten,
die Lösung der deutschen Frage erst als den zweiten Schritt. Die Bundesregierung,
für die die deutsche Frage nicht an zweiter, sondern an erster Stelle steht,
ist also eingeklemmt zwischen der französischen Spekulation auf Peking
und der amerikanischen Spekulation auf Moskau.
Dabei ist in Rechnung zu stellen,
was in der Berichterstattung über de Gaulles Pressekonferenz bisher etwas
zu kurz kam. Man hat aus de Gaulles Erklärungen mit Recht den Eindruck
gehabt, daß Erhards Besuch in Frankreich günstige Stimmung für
die deutsche Sache gemacht hat. Aber de Gaulle hat auch einige Sätze gesagt,
die die westdeutsche Bevölkerung nicht überhören dürfte:
Das deutsche Volk könne durch seine Tüchtigkeit, sein Denken, seine
wissenschaftlichen Leistungen und seine militärischen Fähigkeiten
die Bewunderung, aber auch die Sorge anderer Völker hervorrufen. Die gewaltige
imperialistische Unternehmung des Dritten Reiches habe zwölf europäische
Staaten unterworfen. 40 Millionen Menschen seien dem Krieg, 10 Millionen Häftlinge
den nationalsozialistischen Vernichtungsmaßnahmen zum Opfer gefallen.
Besonders im Osten sei das Mißtrauen vor Deutschland noch groß.
Aber auch in Westeuropa habe man oft mit Vorsicht und Unbehagen den wirtschaftlichen
Wiederaufstieg die Wiederbewaffnung und das politische Erstarken der Bundesrepublik
beobachtet.
Erst
nachdem er diese Erinnerungen an die Belastung des heutigen Deutschland mit
der nationalsozialistischen Vergangenheit dargestellt hatte, fuhr de Gaulle
dann fort:
Frankreich wolle alles tun,
damit Deutschland ein sicheres Element des Friedens und des Fortschrittes bleibe.
Unter dieser Bedingung wolle Frankreich auch bei der Wiedervereinigung im Rahmen
des alten Kontinents helfen.
Der deutsche Bürger muß sich - gerade auch nach den Worten des Gaulles
- klar darüber sein, daß die Decke des Vertrauens, auf der Deutschland
Politik treiben kann, in der Welt überaus dünn ist. Das kann nicht
oft genug bedacht werden; denn diese dünne Decke des Vertrauens könnte
brechen, wenn übereilte, eigenwillige, unverständliche Aktionen erfolgten.
Dann wäre die Bundesrepublik in Gefahr, eines Tages isoliert zu sein.
Nun ist es im politischen
wie im menschlichen Leben so, daß nicht nur von den großen Dingen,
sondern oft genug von den sogenannten "Kleinigkeiten" das Zusammenleben
abhängt. Staatenfreundschaften wurden ebenso wie Ehen durch eine Fülle
von Bagatellen statt großer Konflikte zermürbt; denn was dem einen
Bagatelle scheint, ist oft dem anderen ausschlaggebend wichtig. Und eine solche
Frage bedroht jetzt die Haltbarkeit der dünnen Decke des Vertrauens: Die
Auseinandersetzung über die Frage, ob die Verjährungsfrist für
nationalsozialistische Gewaltverbrechen im Mai ablaufen soll - nach 20 Jahren,
wie es den bestehenden deutschen Gesetzes-Vorschriften über die Verfolgung
von Mordtaten entspricht - oder ob man diese Frist verlängern wird. Davon
hängt ab, ob man nationalsozialistische Morde, die erst nach dem Mai 1965
an den Tag kommen, gerichtlich verfolgen kann oder nicht.
Die Franzosen haben im Dezember
Verjährungsfristen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgehoben,
ebenso die Belgier. Im englischen und im amerikanischen Recht gibt es für
Mord überhaupt keine Verjährungsfrist. Die amerikanische Volksabstimmung
wendet sich sehr deutlich dagegen, daß man in Deutschland die Verjährungsfrist
für die nationalsozialistischen Morde gelten lassen will. In England und
in den skandinavischen Staaten ist die Stimmung zwar anders. Aber auch aus einem
neutralen Land wie der Schweiz kamen Zeitungsstimmen, die von Empörung
in der Welt, von der Stimme des Weltgewissens, von einem unmoralischen Vorhaben
der deutschen Gesetzgebung sprachen, für den Fall, daß man die geltende
normale Verjährungsfrist für Mord auch gegenüber NS-Verbrechen
bestehen lassen werde.
Die Bundesregierung hat nun
Erklärungen abgegeben, die es möglich erscheinen lassen, daß
man einen Weg findet, um die Verjährungsfrist für nationalsozialistische
Gewalt-Verbrechen abzuschaffen. Und das ist gut so. In leichter Abwandlung eines
Bibel-Wortes kann man sagen: Nur wer Vertrauen im Geringsten rechtfertigt, wird
Vertrauen auch im Großen bewahren." Und dieses Vertrauen der Umwelt
zu bewahren, ist die Voraussetzung dafür, daß die deutsche Politik
auf der dünnen Vertrauens-Decke, auf der sie operieren muß, die schwierige
Balancekunst nicht nur zwischen West und Ost, sondern auch zwischen ihren eigenen
Verbündeten Frankreich und USA mit Erfolg weiter führen kann.
ALFRED GERIGK
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