Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 31.10.2000, S. 16, Zeitgeschehen Die
zweite Öffnung
Serbiens "Rückkehr nach Europa" ist mit vielen Hindernissen gespickt
/ Von Matthias Rüb |
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BUDAPEST,
Ende Oktober.
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Es
ist noch nicht so lange her. Jedenfalls haben sogar Menschen jüngeren Alters
- etwa in Ungarn, aber auch in anderen Nachbarstaaten - noch eine eigene lebhafte
Erinnerung an jene Zeiten. Aus Budapest fuhr man zum Einkaufen dorthin, weil man
die Auswahl und auch das Flair schätzte. Für Menschen in Sofia und schon
gar in Bukarest lag das Reiseziel weit hinter den Bergen der real existierenden
Möglichkeiten, während man aus Wien oder aus Rom dorthin fuhr wie in
ein beliebiges anderes Nachbarland im Westen. |
Die
Rede ist von Jugoslawien und insonderheit von Belgrad, der Hauptstadt der einstigen
Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien. Man mag es sich heute -
hüben wie drüben - kaum mehr vorstellen, aber vor zehn, fünfzehn
Jahren gehörten Land und Stadt zu Westeuropa. Die Menschen dort lebten nicht
schlecht, fuhren neben Autos aus heimischer Produktion auch solche aus dem Westen.
Die Möbelhauskette "Ikea" kaufte schon in den achtziger Jahren
ein Grundstück in Belgrad, um von dort aus auch den jugoslawischen Teil der
Menschheit davon zu überzeugen, daß man mit dem Imbusschlüssel
das Tor zum Glück oder jedenfalls zur Behaglichkeit öffnen kann. Die
Kriege von 1991 an durchkreuzten dann die schwedischen Pläne - vorerst. Natürlich
gab es in Belgrad schon einen "McDonald's", lange bevor die Propaganda
aus Amerika den Lieblingsfeind des stolzen, unbeugsamen serbischen Volkes machte. |
Kurzum,
die Menschen in Serbien waren zwar durchschnittlich nicht so wohlhabend wie die
Angestellten in westeuropäischen Staaten, mußten dafür aber deutlich
weniger arbeiten. Jugoslawien seinerseits war für den Westeuropäer ein
Ferienziel wie Italien und Spanien, während man für Ungarn sogar noch
ein Visum brauchte. Umgekehrt galt dasselbe: Der blaue jugoslawische Reisepaß
war das Eintrittsbillett in die Staaten der damaligen Europäischen Gemeinschaft,
man war ein gern gesehener Gast. Selbst den chronisch inflationskranken Dinar
konnte man vielerorts problemlos eintauschen, und Deutsche Mark hatte sowieso
jeder. |
Heute
kann es vorkommen, daß jemand in Deutschland, der nach Belgrad fahren will,
gefragt wird, ob das dort nicht gefährlich sei. Ein Visum ist nicht so leicht
zu bekommen, doch verglichen mit den demütigenden Prozeduren, die jugoslawische
Staatsangehörige ihrerseits durchlaufen müssen, um einen Einreisevermerk
für "Schengen-Europa" zu bekommen, ist der Besuch eines jugoslawischen
Konsulats in einem westlichen Land ein Spaziergang. Klar ist, daß die Bundesrepublik
Jugoslawien (Serbien und Montenegro) heute neben Albanien und Moldova der ärmste
und "fernste" Staat unseres seit 1989 angeblich nicht mehr in einen
West- und in einen Ostteil getrennten Kontinents ist. Mit mehr als zehn Jahren
Verspätung und nach dem "Umweg" über vier verschuldete und
verlorene Kriege will Jugoslawien, will Serbien jetzt "zurück nach Europa". |
Es
gehörte zu den Wahlversprechen des neuen jugoslawischen Präsidenten
Kostunica, aus Serbien (wieder) ein "ganz normales europäisches Land"
machen zu wollen - und dafür hat er von der Mehrheit der Wähler am 24.
September ein Mandat bekommen. Abermals bedurfte es eines "Umwegs" -
dem über einen gewaltsamen, aber fast unblutigen Umsturz am 5. Oktober -,
ehe mit dem Diktator Milosevic die Blockade auf der Straße nach Europa beseitigt
werden konnte. |
Die
Rede von der "Rückkehr Serbiens nach Europa" ist also mehr als
eine Floskel, denn in verschiedener Hinsicht gehörte das blockfreie Jugoslawien
Titos eher zum West- als zum Ostteil des Kontinents. Politisch hatte die kommunistische
Herrschaft des "Marschalls" und seiner kollektiv-rotierenden Nachfolger
von 1980 zwar gewiß nichts mit einer Demokratie zu tun. Doch allein die
Offenheit des Landes brachte die intellektuelle, politische und wirtschaftliche
Elite mit der Gedanken- und Lebenswelt von Demokratie und Marktwirtschaft in Berührung
- was einen Teil dieser Elite freilich nicht davor bewahrte, wenig später
zur Speerspitze des aggressiven serbischen Nationalismus zu werden. Nach der Machtübernahme
Milosevics und der nationalistischen Uniformierung verließen Zehntausende
qualifizierte Fachleute und Intellektuelle das Land. Und wer daheim blieb, versuchte
die Zeit der Kriege, des Hasses und des allgemeinen Niedergangs zu "überwintern". |
Doch
bis zuletzt gab es in Belgrad und anderswo eine dünne Schicht von kritischen
Künstlern und Intellektuellen, auch von demokratischen Politikern, die gegen
das Virus des Nationalismus (fast) immun waren. Viele von ihnen gehören jetzt
zur neuen politischen Führungsschicht um Kostunica, das Parteienbündnis
Demokratische Opposition Serbiens und die Gruppe unabhängiger Ökonomen
"G17 plus". |
Für
sie und vor allem für die Generation der heute etwa Zwanzigjährigen,
die sich von der Studenten- und Bürgerbewegung "Otpor!" (Widerstand!)
vertreten fühlen, steht hinter der "Rückkehr nach Europa"
vor allem der Wunsch, endlich die jahrelange Isolation zu überwinden. Dabei
haben in den Köpfen und Herzen auch intelligenter junger Menschen durchaus
widersprüchliche Befindlichkeiten nebeneinander Platz. Man will den Lebensstil
und auch den Wohlstand der Menschen im Westen teilen, man trägt echte "Nike"-Turnschuhe
und "Levis"-Jeans, hält die Verschwörungstheorien der Milosevic-Propaganda
über das mutwillige Zerschlagen Jugoslawiens durch Amerika, Deutschland und
den Vatikan sowie über die einseitig antiserbische Einstellung der westlichen
Regierungen für nicht ganz abwegig. In den ersten Tagen des Bombenkrieges
der Nato zwischen Ende März und Mitte Juni 1999 waren die Gebäude westlicher
Botschaften und Kulturinstitute in Belgrad das Ziel von Steinwürfen und wurden
mit wüsten Parolen beschmiert. Gegen die Fensterscheiben des "McDonald's"
in der Belgrader "Terazije"-Straße flog nicht nur kein einziger
Stein, man sprach auch unter amerikanischen Bomben fleißig dem amerikanischsten
aller Imbisse zu. |
Gewiß
sind die Flurschäden beträchtlich, welche die jahrelange Haßpropaganda
gegen den Westen und zumal gegen Amerika in der Gedanken- und Gefühlswelt
vor allem der weniger gebildeten Menschen hinterlassen hat. Hinzu kommt
das Gefälle zwischen den halbwegs "aufgeklärten" Städten
und dem Land, wo das gleichgeschaltete Staatsfernsehen die einzige Informationsquelle
war. Doch wenn die Propaganda erst einmal ausgeschaltet
ist, beginnt auch das Umdenken. |
Jüngste
Umfragen zeigen, daß inzwischen mehr als zwei Drittel der Serben der
Ansicht sind, Milosevic sei ein schlechter Präsident gewesen, und vier
Fünftel wünschen, er möge keinen Einfluß mehr auf die
Geschicke des Landes nehmen.
Unter Tito war die Öffnung nach Europa die Taktik eines autokratischen
Regimes zur Verlängerung und Stabilisierung der Herrschaft. Es ging um den
Export wirtschaftlicher Probleme - aus Arbeitslosen im Land wurden Gastarbeiter
in der Schweiz, in Österreich und vor allem in Deutschland. Und es ging um
den Import von dringend benötigten Devisen - mittels Überweisungen der
fleißigen Gastarbeiter und zumal durch die aus politischem Kalkül großzügig
gewährten Kredite westlicher Staaten. Der Plan konnte nur mittelfristig gelingen.
Auf lange Sicht mußte er ebenso scheitern wie die ebenfalls machttaktisch
motivierte Abschottung unter Milosevic. |
Beim
Projekt der "zweiten Öffnung" nach Europa hat Serbien mit abermals
erschwerten Voraussetzungen zu kämpfen. All die Schwierigkeiten der Transformation,
unter welchen die Menschen selbst in den am weitesten fortgeschrittenen Reformstaaten
wie Polen, Slowenien, Tschechische Republik und Ungarn noch zehn Jahre nach der
Wende leiden, stehen Serbien noch bevor. Auf keinem Boden geht die Saat des Nationalismus
so rasch auf wie auf dem einer schweren Wirtschaftskrise. Diese Art von Humus
wird das von Mißwirtschaft und Krieg zugrunde gerichtete Land in den kommenden
Jahren aber noch zuhauf hervorbringen - und damit gute Arbeitsbedingungen für
neue Rattenfänger des Nationalismus. Hinzu kommt, daß die "serbische
Frage" noch immer offen ist - und nur in der Weise beantwortet werden kann,
daß der Vielvölkerstaat Serbien ein Bürgerstaat aller seiner Nationen
und Völker wird und daß die serbischen Minderheiten in Bosnien, Kroatien
und im Kosovo Brücken werden zu den Nachbarn statt wie bisher Brückenköpfe
für Angriffskriege. Das ist ein politisches, wirtschaftliches und kollektivpsychologisches
Arbeitsprogramm, das eigentlich über die Kräfte geht. Die seit mehr
als einem Jahrzehnt immer nur verkündete "heroische Ära" des
serbischen Volkes beginnt erst jetzt.
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