Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 54, 2004

3. Perspektiven
3.6 Raum und Zeit
3.6.2

Weiter Zeithorizont

    Beispiel 3.6.2.3:

Süddeutsche Zeitung, 20.9.1969, S. 4

Nur noch ein Rest alten Argwohns
Die Wahlkampf-Bundesrepublik in französischer Sicht / Anerkennung für unsere Sozial- und Wirtschaftsstrukturen

 
Von unserem Korrespondenten Klaus Arnsperger
 
Paris, 19. September

Daß im Nachbarland jenseits des Rheins am nächsten Wochenende Wahlen stattfinden, ist bis jetzt erst von Frankreichs Berufspolitikern und von einigen Intellektuellen zur Kenntnis genommen worden. Die Franzosen haben zur Zeit andere Sorgen. Wird es der eigenen Regierung gelingen, mit der sozialen Unzufriedenheit fertig zu werden und wird sie, vor allem, die Preise halten können? Aus alter Tradition übrigens kümmert sich Frankreichs Öffentlichkeit verhältnismäßig wenig um Vorgänge außerhalb der blau-weiß-roten Grenzpfähle, es sei denn, unmittelbare nationale Interessen stünden auf dem Spiel. Da sich zur Zeit aber die nationalen Interessen vorwiegend auf die Probleme der inneren Stabilität richten, dürften die Bundestagswahlen hier nur in einem Fall allgemeines Aufsehen erregen: Falls es der NPD gelingen sollte, in den Bundestag einzuziehen.

Auf den ersten Blick ist eine Bestandsaufnahme des französisch-deutschen Verhältnisses für die Bundesrepublik eigentlich recht schmeichelhaft. In der Sicht der meisten Franzosen ist zum Nachbarn im Osten inzwischen eine fast problemlose Beziehung hergestellt, die zwar noch weit entfernt ist von der emotionalen Hinneigung zu England, das nicht nur wegen der bewährten Waffenbrüderschaft aus zwei Weltkriegen alte und echte Sympathien genießt, sondern auch als Urquelle demokratischer Tugenden in Europa. Verstärkt wird dieser allgemeine Hang zur Anglophilie - trotz der bis jetzt noch gegenläufigen französischen Außenpolitik - durch die inzwischen globale Ausbreitung der angloamerikanischen Industriekultur, die mittlerweile auch von Frankreich in immer rascherem Tempo Besitz ergreift.
Bei dieser Grundstimmung ist offenbar überraschend wenig Anlaß und noch weniger Anreiz für die Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik und deren Bewohnern vorhanden. Doch dieser Anschein täuscht: an der Basis wachsen zwar in beiden Völkern Generationen heran, die in nunmehr schon fünfundzwanzigjährigem friedlichen und freundschaftlichen Kontakt miteinander leben, aber es gibt auch noch die ältere Generation der von den Kriegen mit Deutschland stigmatisierten Franzosen, die zwar meistens besten Willens, aber emotional nicht imstande sind, die bitteren Lektionen ihrer Lebensgeschichte zu vergessen.
Ein Rest von Argwohn ist geblieben, obwohl sich heute manche Franzosen selbst zerknirscht die Frage vorlegen, ob nicht General de Gaulles Politik des nationalen Eigennutzes in der Bundesrepublik allzu gelehrige Schüler gefunden habe. Doch die angeblich akute Gefahr eines deutschen Rückfalls in radikalen Nationalismus wird nur von den Kommunisten ausdauernd heraufbeschworen. Die Masse der Franzosen hingegen sieht im bisherigen politischen Verhalten der Deutschen viel eher ein anderes altes Vorstellungsbild bestätigt: arbeitsam, tüchtig, sparsam und ordnungsliebend. Vor allem ordnungsliebend. In dieser Hinsicht schwankt die öffentliche Meinung, die so oft vom spontanen gallischen Anarchismus befallen wird, noch immer zwischen Spott und heimlicher Bewunderung.
Doch es gibt auch Anzeichen einer in die Tiefe gehenden Veränderung alter Meinungsklischees über die deutschen Nachbarn. Zu viele persönliche Kontakte sind inzwischen hergestellt. In den entlegensten Winkeln Frankreichs stößt der Autofahrer auf Schilder, die an den Ortseinfahrten verkünden, daß hier ein Patenschaftsverhältnis mit einer Gemeinde der Bundesrepublik bestehe. Die Goethe-Institute leisten, vor allem in der Provinz, eine wenig aufsehenerregende, dafür aber nachhaltig ins Bewußtsein der jungen Intellektuellen dringende Arbeit für das Verständnis deutscher Kulturwerte. Als die Anfang August vor den Fernsehschirmen zur Schau gestellte selbstgerechte Arroganz des Weihbischofs Defregger auch in Frankreich eine Welle empörter Leserbriefe in die Zeitungen spülte und als sofort wieder ein unterschwelliger Ton des Vorwurfs und des Mißtrauens an die Adresse der Bundesrepublik laut wurde, da trat der wahrhaft bemerkenswerte Fall ein, daß die linksliberale Zeitung Le Monde in einem Leitartikel um Respekt für ein Land warb, das "aus moralischen Gründen und aus internationaler Ehrbarkeit sich entschlossen hat, Verbrechen der Vergangenheit nicht zu vergessen."
Freilich ist die Bundesrepublik mittlerweile auf eine viel profanere Art im Alltag der Franzosen gegenwärtig. Als größter Handelspartner Frankreichs überschwemmt sie das Land mit den Produkten ihrer Industrie und hat damit nicht wenig dazu beigetragen, daß sich Frankreichs vormals von Zollmauern geschützte und deshalb in vielen Branchen rückständige Wirtschaft modernisiert und damit stärken muß. Die anfängliche Sorge vor wirtschaftlicher Überflügelung durch die Deutschen wurde zum Katalysator für eine strukturelle Verbesserung des französischen Marktes. Die mehrfachen Krisen und die schließliche Abwertung des Francs haben allerdings den Franzosen schmerzhaft zum Bewußtsein gebracht, daß sie in ihrer industriellen Gesamtkapazität gegenüber der Bundesrepublik erheblich im Rückstand liegen. Bezeichnend, daß die sogenannte deutsche Gefahr für Frankreichs Industrie in der Öffentlichkeit viel stärker empfunden wird als die amerikanische; dabei investieren die USA sechsmal so viel in Frankreich wie in der Bundesrepublik.

Noch vor zehn Jahren allerdings wäre es kaum denkbar gewesen, daß renommierte Publizisten und selbst Minister im Parlament das Nachbarland als nachahmenswertes Beispiel eines sinnvoll organisierten und richtig orientierten Industrie- und Sozialstaates empfehlen. Weit davon entfernt, unter (auch gar nicht angebrachten) Minderwertigkeitsgefühlen zu leiden, blickt der Durchschnittsfranzose dennoch mit gewissem Neid auf die sozialen Errungenschaften und vor allem auf die in der Bundesrepublik gefüllten Lohntüten, der Inhalt bis jetzt weit weniger rasch entwertet wurde als in Frankreich. Vor allem viele der brillanten jungen Technokraten sehen in dem vom Gift der Ideologien weitgehend frei gebliebenen deutschen Sozialklima eine ideale Voraussetzung zur Bildung einer wirklich egalitären Gesellschaft des industriellen Zeitalters. Bis jetzt will man in Frankreich nicht recht glauben, daß die Deutschen dieses ganze Kapital am 28. September aufs Spiel setzen, indem sie der NPD in den Bundestag verhelfen.

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