Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 54, 2004

6. Stil und Technik
6.6 Erzählperspektive
6.6.1 Ich-Erzähler zeigt am eigenen Beispiel, wie Versöhnung mit dem ehemaligen Gegner bzw. Abbau von Vorurteilen aussehen kann
    Beispiel 6.6.1.2: Man sehe bei diesem Text von der wiederholten Abwertung des französischen Schulsystems und der Aufwertung des eigenen ab. Der Autor gibt darüber hinaus jedoch ein anschauliches Beispiel, wie so ein Schüleraustausch funktionieren kann und dass sich auch dabei auftretende Probleme und Sorgen über Einfühlung und Verständnis lösen lassen. [Anm. S.J.]

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.8.1959, Seite "Die Frau"

Colette lernt tanzen
Deutsch-französischer Schüleraustausch

 

Ueber persönliche Erfahrungen in Schule und Heim schreibt uns Oberstudienrat Alois Bießle, Landau/Pfalz:

 

In Frankreich haben bereits am 1. Juli die Ferien begonnen. Erstmalig gehen sie dieses Jahr am 15. September zu Ende. Die rentrée des classes wird also nicht mehr wie üblich am 1. Oktober sein. Die französischen Zeitungsreportagen mit Bildern, die den Ansturm der Jugend auf die Buchhandlungen, Schreibwarengeschäfte und Schulen nach überlanger Ferienzeit bringen, werden dieses Jahr um 14 Tage vorverlegt werden müssen.

Für den deutsch-französischen Schüleraustausch sind die langen französischen Ferien eine günstige Voraussetzung. Diese günstige Voraussetzung wird in steigendem Maße wahrgenommen. Vermutlich liegen die Zahlen bereits erstaunlich hoch. Allerdings wird eine genaue Statistik nicht möglich sein, weil sich dieser Austausch in der Hauptsache auf privater Ebene abspielt. Er kommt meist zustande im Anschluß an den deutsch-französischen Schülerbriefwechsel, der von den Kultusministerien der Länder in Zusammenarbeit mit der französischen Botschaft in Bonn organisiert wird. Er hat sich seit Jahren bewährt. Diese Feststellung ergibt sich allerdings zunächst aus dem Blickwinkel von Rheinland-Pfalz, wo Französisch bis vor zwei Jahren in der Hauptsache erste Fremdsprache war, dürfte aber entsprechend auch für die anderen Länder gültig sein. Aus diesem Briefwechsel entwickelt sich in sehr vielen Fällen die Einladung zum gegenseitigen Besuch. Im allgemeinen ist es so, daß die jungen Franzosen im Juli in Deutschland weilen (bzw. in den vergangenen Jahren im September) und die deutschen Schüler den Monat August in Frankreich verbringen. Schüler, die bis zum Abitur einen zwei- bis dreimaligen Ferienaufenthalt in Frankreich (auch in England) hatten, sind heute keine Seltenheit mehr.
Von Anfang Juli an füllen sich unsere Klassen mit französischen Schülern und Schülerinnen. Manchmal sind es bis zu fünf oder sechs. So haben die jungen Franzosen das Erlebnis einer deutschen höheren Schule. An manchen Tagen verfolgen sie den ganzen Unterricht. Dabei schulen sie ihr Ohr im Verständnis der deutschen Sprache. Im Französischunterricht können sie mit eingespannt werden und tragen dadurch zur Auflockerung bei. Leider haben unsere Schüler in Frankreich nicht das gleiche Erlebnis, da sie dort nur in der Ferienzeit anwesend sind. Aufmerksam und diszipliniert folgen die jungen Franzosen dem Unterricht. Besonders interessant wird es, wenn sie beispielsweise im Geschichtsunterricht mitherangezogen werden können. Im Französischunterricht lohnt sich das Einschieben einer französischen Fragestunde etwa mit dem Thema: Die Unterschiede zwischen der deutschen und französischen Schule. Und dann kommt die Frage der deutschen Schüler: Habt ihr einen Wandertag? Der junge Franzose verneint und sagt: "Nous travaillons." Dabei spricht er travaillons derartig prononciert, daß alles lacht.
Hier muß nun der Lehrer einhaken und den Unterschied erklären. Wenn auch die moderne Methode des Arbeitsunterrichts immer mehr in Frankreich Eingang findet, so ist doch im ganzen gesehen die französische Schule heute noch eine ausgesprochene Lernschule. Die "surmenage" (Ueberforderung und Ueberanstrengung der Schüler) ist ein in Frankreich seit Jahrzehnten von der Oeffentlichkeit, besonders von Aerzten und Pädagogen, diskutiertes Problem. Im wesentlichen hat sich aber trotz der Erkenntnis, daß vielfach Raubbau an der jugendlichen Gesundheit getrieben wird, nichts geändert. Zwar jammert alle Welt, Eltern, Lehrer und Schüler, aber man möchte auf das bestehende System nicht verzichten, da es doch die Herauskristallisierung der so notwendigen geistigen Elite sicherzustellen scheint. Dabei ist es so, daß nach Unterrichtszeit (auch nachmittags) und häuslicher Aufgabenstellung (viele schriftliche Ausarbeitungen, die laufend durch Korrektur überprüft werden) auch der gutbegabte französische Schüler voll von seiner Schule in Anspruch genommen wird und abends, wenn er um 5 oder 6 nach Hause kommt, bis 10 oder 11 Uhr regelmäßig über seiner Arbeit sitzt. Die verallgemeinerte Feststellung, daß unsere deutschen Schüler in der höheren Schule hinsichtlich der häuslichen Arbeit überfordert sind, ist stark übertrieben. Franzosen, die die deutschen Schulverhältnisse kennen, lächeln nur mitleidig, wenn sie hören, daß unsere Schüler überfordert sein sollen. Die gleiche Erkenntnis teilt sich auch unseren Schülern mit, wenn sie mit französischen Schülern in Berührung gekommen sind.
Und nun ist Colette bei uns in der deutschen Familie mit zwei fast gleichaltrigen Töchtern und einem jüngeren Sohn. Sie ist zum ersten Male in Deutschland und als einzige Tochter fern von Vater und Mutter. Ein besorgter Begleitbrief des Vaters weist darauf hin, daß sie ein sehr schweres Schuljahr hinter sich hat und daß sie ruhebedürftig ist. Die entsprechenden aufbauenden Medikamente bringt sie mit und die Bitte, zu überwachen, daß sie sie auch regelmäßig nimmt. Dabei ist Colette frisch und natürlich und von zu Hause instruiert, sich entsprechend anzupassen. Es gibt keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil empfindet sie das Leben in einem deutschen Eigenheim mit Garten im Vergleich zu dem Appartement im vierten Stock einer großen Stadt in Frankreich als recht angenehm. Ihr bester Sprachführer am Anfang ist unser Jüngster (Sextaner). Drum schicken wir die beiden oft miteinander los. Er zeigt ihr die Stadt. Ihm gegenüber legt sie am schnellsten die Scheu ab, ihr in der Schule gelerntes Deutsch zu sprechen.
Ueber das Essen äußert sich Colette nach vierzehn Tagen, beinahe hätte ich gesagt, daß sie es sich schlimmer vorgestellt hätte. Immerhin war sie bzw. waren ihre Eltern gewarnt worden. Auf jeden Fall erklärt sie uns, daß es ausgezeichnet ist und nicht dem entspricht, was man ihr vorher erzählt hatte. Wir machen uns zwar keine Illusionen, denn wir kennen die französische Küche und wissen, daß wir nicht konkurrieren können. Praktisch ist es so, daß wir erklären: Colette, du bist in Deutschland. Wir könnten zwar versuchen, die französische Küche nachzuahmen, aber wir bleiben bei dem, wie und was wir auch sonst essen. Und dann füllt sich als Modellfall unsere Aelteste den Teller mit Fleisch, Kartoffeln und Gemüse, und Colette hält in der gleichen Form mit. Das Essen scheint mir das große Abenteuer im fremden Land zu sein. Kein Zweifel, für jeden Frankreichfahrer, der dort eingeladen wird, das schönste Abenteuer!
Zunächst wird Colette geschont. Sie darf wie zu Hause in den Ferien, wir wissen das, ruhig bis 10 oder gar 11 Uhr schlafen. Erst allmählich soll sie sich an unseren Lebensrhythmus gewöhnen. Ungekehrt fällt es unseren Kindern in Frankreich oft schwer, wenn sie dort so lange schlafen sollen, ja sogar müssen aus dem einfachen Grund, weil sich im Haus noch nichts rührt. Interessant wird es nun, wenn der deutsche Lebensrhythmus von den jungen Franzosen Besitz ergreift. Unsere Kinder müssen ja noch zur Schule. Nach einigen Tagen nehmen sie Colette mit und führen sie ein. Nachmittags geht sie mit zum Einkaufen. Später schicken wir sie allein zum Einkaufen. Dann ist sie ganz stolz. Sie begleitet unsere Töchter zur Geigen- und Flötenstunde. Abends geht es zum Turnen in den Turnverein. Zunächst schaut sie zu, beim zweiten Male macht sie schon mit. Sie bekommt Farbe und Muskelkater. Das ist für Colette eine neue Welt. Und dann gibt die Klasse ein Klassenfest. Jungen werden zum Tanzen eingeladen. Auch da muß Colette mit. Sie hat zwar noch nie getanzt oder gar eine Tanzstunde in unserem Sinne mitgemacht, aber sie hat natürliches Talent und lernt leicht. Mit Hilfe des Plattenspielers wird sie zu Hause vorbereitet. Ihr Debüt wird ein Erfolg. Sie ist begeistert. Und dann geben die Jungen ein Klassenfest. Colette wird eingeladen und ist begehrt. Wir hatten ihr den Begriff Mauerblümchen beigebracht. Am nächsten Tag fragten wir sie: "Hat es Mauerblümchen gegeben?" "O nein", sagt sie (sie sagt immer o nein, o ja - niemals einfach ja oder nein), "es gab Mauerjungen!" Sie muß auch mit ins Schwimmbad. Im Schwimmen ist sie Anfängerin. Unsere sind Sportschwimmer. Colette wird angeleitet. Sie holt auf. Nach vier Wochen kann sie richtig schwimmen.
Frankreich ist härter mit seiner Jugend als wir mit unserer. Sie muß für die Schule mehr und intensiver arbeiten. Einen Ausgleich gibt nur die Familie. Die Schule mit ihren zentral gelenkten anonymen Prüfungen und 50 bis 60 Prozent Durchfällen beherrscht das Leben des französischen Schülers und läßt kaum Raum für andere Dinge.

Den größeren Lebensbereich hat unsere Jugend.

Alois Bießle

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