Die
Welt, 14.5.1955, S. 5, "Tagesbericht Hamburg"
Ein
Brief aus Sombernon
"...daß mein Freund Ludwig Fabricius, Hamburg-Nienstedten,
70. Geburtstag hat"
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Eine
alte Dame schrieb einen Brief an DIE WELT. Der Umschlag trägt eine
französische Marke mit dem Poststempel "Sombernon". Die Schreiberin
ist 84 Jahre alt - aber die Handschrift ist gestochen klar. Und der Inhalt
des Briefes beweist eine tröstliche Tatsache: Jenseits von Haß
und politischer Verwirrung zweier Nachbarvölker gibt es eine andere
Welt. Eine Welt des menschlichen Verstehens über die Grenzen hinweg.
Deshalb sind wir der Vorgeschichte dieses Schreibens, das alle Herzen anrühren
sollte, nachgegangen. |
Frau
Berthe Large aus dem Dorf Sombernon bei Dijon schreibt: |
"Ich
habe die Ehre, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß mein Freund,
Oberst Ludwig Fabricius, Hamburg-Nienstedten, Karl-Jacob-Straße 45,
am 16. Mai seinen 70. Gebutstag feiert. Erlauben Sie mir, Ihnen zu erzählen,
wie Oberst Fabricius mein Freund wurde - und nicht nur der meine. |
Auf
dem Wege von Avignon nach Paris wurde die Abteilung des Obersten beim Durchzug
durch Sombernon angegriffen. Während des nun folgenden Kampfes erlitt
der Oberst am Eingang meines Hotels eine schwere Verwundung. Er wäre
verblutet, wenn ich ihn nicht im Saal gebettet und den Arzt Dr. Bocard geholt
hätte, der sofort mitkam, den Obersten verband und das Blut zum Stillstand
brachte. Als der Kampf vorbei war, wurden die vier verwundeten Deutschen
ins Lazarett von Dijon transportiert. |
Unterwegs
traf dieser Transport eine Kompanie Infanterie, die den Auftrag hatte, dem
angegriffenen Zug zu Hilfe zu kommen und das Dorf Sombernon als Vergeltungsmaßnahme
zu zerstören. Der Oberst, dem von diesem Befehl Bericht erstattet wurde,
gab sofort einen Gegenbefehl und rettete so unser Dorf vor dem Schicksal
Oradours. |
Ich
habe später gehört, daß dieser Zerstörungsbefehl von
Herrn Hitler stammte, der angeordnet hatte, daß die Orte, in denen
solche Angriffe stattfanden, zu zerstören seien - eine sehr harte Vergeltung
für die Zivilbevölkerung, die an solchen Dingen nicht aktiv teilgenommen
hatte. Durch seine Intervention hat sich der Oberst diesem Befehl entgegengestellt
und riskiert, daß man ihn für diese Insubordination zur Rechenschaft
ziehen würde. |
Wir,
die Einwohner von Sombernon bleiben ihm immer dankbar dafür, daß
uns nicht das gleiche Schicksal beschieden wurde wie den Bürgern von
Oradour. Wir erkennen dankbar an, daß er es trotz seiner schweren
Verwundung nicht zuließ, daß die Rachsucht den Sieg über
die Menschlichkeit davontrug. So hat er beispielhaft gehandelt und mehr
zur französisch-deutschen Verständigung beigetragen als manche
anderen Soldaten und Politiker auf beiden Seiten. Darum ist und bleibt für
immer der Oberst Fabricius mein Freund - ein Mann, würdig der Dankbarkeit
der Franzosen und der Deutschen. |
Empfangen
Sie, meine Herren, meine respektvollen, freundschaftliche Grüße.
Eine alte Patriotin von 84 Jahren wünscht Ihnen und ganz Deutschland
viel Glück.
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Berthe
Large."
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Das
ist der Brief aus Sombernon. Und wie gesagt, gestochen klar sind die Schriftzüge
der Greisin. Klar wie die Gedanken, die Zeile für Zeile aus diesem
Dokument sprechen.
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Der
hochgewachsene Mann, der mich vor der Tür des Hauses in der stillen
Nienstedtener Karl-Jacob-Straße empfängt, gibt mir die linke
Hand. Der rechte Ärmel hängt herunter. "Ja, das ist eine
Erinnerung an Sombernon", sagt der ehemalige Oberst Ludwig Fabricius,
"aber wenn die gute Madame Large nicht gewesen wäre, könnten
Sie mich hier nicht besuchen. Und meinen 70. Geburtstag hätte ich
auch nicht mehr erlebt..."
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Wir
sitzen im behaglich eingerichteten Wohnzimmer und der Blick geht hinaus
auf die blühenden Magnolienbäume in den Gärten am Rande
der Elbe. Ludwig Fabricius lächelt: "Nun hat die brave Madame
Large auch noch die Zeitung alarmiert. Eine tolle Frau..."
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Und
in unserem Gespräch wird noch einmal ein Tag vor elf Jahren lebendig.
Ein Augusttag in Frankreich - damals, als der Zweite
Weltkrieg seinen chaotischen Höhepunkt an der Westfront erreicht hatte.
"Ich war Verbindungsoffizier der Luftwaffe zum Heer in Avignon",
erzählt der einstige Oberst. "Am 15. August hatte ich einen Auftrag
in Paris zu erfüllen. Wir fuhren in einem Lastwagen-Konvoi. Die Landstraßen
waren damals schon sehr unsicher durch Überfälle der Widerstandskämpfer.
Als wir in eine S-Kurve in das Dorf Sombernon einbogen, erhielten wir plötzlich
Feuer. Angehörige des ´Maquis´ hatten auf dem Dach eines
Omnibus Maschinengewehre aufgebaut, die Garben spritzten uns entgegen. Ich
sprang vom Wagen - und vor der Tür des Gasthauses hat es mich dann
am Arm erwischt..." |
Dann
geht diese Geschichte genau so weiter, wie es Madame Large in ihrem Brief
beschreibt. "Eine weißhaarige Frau zog mich in die Gaststube",
berichtet Herr Fabricius. "Sie legte mich auf ein Sofa, rannte fort
- und kam bald darauf mit drei Männern zurück: dem Arzt, dem
Bürgermeister und - dem Pfarrer... Aber soweit war es zum Glück
noch nicht ganz."
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Morgens
um acht Uhr, als der verwundete Oberst mit drei Kameraden nach Dijon zurücktransportiert
wurde, begegnete ihnen eine Infanteriekolonne. Der Oberst fragte den jungen
Oberleutnant: "Was haben Sie für Befehle?"
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Der
Oberleutnant: "Wir sollen helfen - und dann das Dorf zerstören..." |
Der
Oberst: "Ich habe festgestellt, daß keine Dorfbewohner an dem
Überfall beteiligt waren. Daher verbiete ich die Zerstörung des
Ortes..." |
Im
Lazarett von Dijon wurde dem Obersten Fabricius der rechte Arm amputiert.
Aber er blieb am Leben. Und auch die Häuser des kleinen Dorfes Sombernon
blieben erhalten. Das ist eigentlich die ganze Geschichte. Eine Geschichte,
die gewiß nicht einmalig dasteht - denn oft, sehr oft, hat auch im
unbarmherzigsten Krieg die Menschlichkeit über die Härte triumphiert.
Auf allen Seiten und an allen Fronten. Aber die Stimme der Härte ist
lauter als die Stimme der Menschlichkeit. |
Doch
diese Geschichte geht weiter - und diese Fortsetzung ist vielleicht das
Beste an ihr. |
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"Gleich,
als wir Deutsche wieder brieflich mit der Außenwelt in Verbindung
treten durften, habe ich an meine Lebensretterin geschrieben und mich
noch einmal bedankt", sagt Ludwig Fabricius. "Sie schrieb sofort
zurück..."
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Mein
Gesprächspartner hat jetzt schon einen ganzen Schnellhefter mit den
Briefen der Madame Berthe Large. Sie berichtet von ihrem kleinen Leben in
ihrem kleinen Dorf - von dem netten neuen Bürgermeister, von den Küken,
die langsam groß werden, von dem Schwein, daß eben geschlachtet
wurde. Sie berichtet von den Torheiten der Politiker aller Länder,
von der Predigt, die der Pfarrer am letzten Sonntag in der Kirche gehalten
hat. |
Und
dann steht darin ein Satz: "Jeden Abend bete ich ein ´Ave´
für den guten Oberst, der unser Dorf gerettet hat. Es ist unmöglich,
diesen Tag jemals zu vergessen..." |
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Vor
einem Jahr betrat der einstige Oberst Ludwig Fabricius aus Hamburg - diesmal
in Zivil - wieder die Gaststube des Hotels von Sombernon. Gemeinsam mit
seiner Frau und seiner Tochter. Fast genau zehn Jahre nach jenem Tag,
von dem hier die Rede war.
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"Wir
sind uns um den Hals gefallen, die über 80jährige Madame Large
und ich", erzählt er. "Es war ein rührendes Wiedersehen.
Und alle waren sie gekommen: der Bürgermeister, der Arzt , der Pfarrer
und viele Dorfbewohner. Die alte Frau holte uralten Burgunder in staubigen
Flaschen aus dem Keller..." |
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Das
also ist die Geschichte des deutschen Obersten Ludwig Fabricius aus Hamburg,
der einer greisen Französin sein Leben verdankt. Die Geschichte eines
Dorfes, das wiederum der gleiche Oberst vor dem Untergang bewahrte. Eine
ganz simple Geschichte, wenn man will. Übrigens: Madame Berthe Large
verlor ihren Mann und ihren Sohn im Ersten Weltkrieg.
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Beim
Durchblättern der Briefe mit den schmalen, festen Buchstaben lese
ich auch: "Es gibt gute und schlechte Deutsche - wie es gute und
schlechte Franzosen gibt..." Viele unter uns könnten eine ganze
Menge lernen von dieser einfachen alten Frau aus dem kleinen Dorfe Sombernon
jenseits der Grenze.
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Karl
Heinz Christiansen
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