Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 54, 2004

2. Konfliktkontext und Konfliktparteien
2.1 "Fakten", Informationen, Hintergründe
2.1.4

Konflikthintergründe statt nur Konfliktarena darstellen

Destruktives Gegenstück: Konfliktstory ist beschränkt auf die "Konfliktarena": Wer griff wann wen an usw.

    Beispiel 2.1.4.2: Nicht nur wurden die "Häuser" des im Artikel genannten Dorfes Oradour zerstört - von seinen über 600 Einwohnern hat kaum einer das Massaker durch die SS überlebt. Der Artikel verzerrt diesen Hintergrund. Durch szenische, teils drehbuchartige Darstellung des Geschehens werden die Kriegsereignisse zu einer spannenden Heldengeschichte, in der der Oberst und Mme Large die Hauptrollen spielen, während über die Hintergründe (z.B. Alliierte kurz vor Paris, Hinrichtungen in französischen Dörfern, etc.) kein Wort verloren wird. [Anm. S.J.]

Die Welt, 14.5.1955, S. 5, "Tagesbericht Hamburg"

Ein Brief aus Sombernon
"...daß mein Freund Ludwig Fabricius, Hamburg-Nienstedten, 70. Geburtstag hat"

 
Eine alte Dame schrieb einen Brief an DIE WELT. Der Umschlag trägt eine französische Marke mit dem Poststempel "Sombernon". Die Schreiberin ist 84 Jahre alt - aber die Handschrift ist gestochen klar. Und der Inhalt des Briefes beweist eine tröstliche Tatsache: Jenseits von Haß und politischer Verwirrung zweier Nachbarvölker gibt es eine andere Welt. Eine Welt des menschlichen Verstehens über die Grenzen hinweg. Deshalb sind wir der Vorgeschichte dieses Schreibens, das alle Herzen anrühren sollte, nachgegangen.
Frau Berthe Large aus dem Dorf Sombernon bei Dijon schreibt:
"Ich habe die Ehre, Ihre Aufmerksamkeit darauf zu lenken, daß mein Freund, Oberst Ludwig Fabricius, Hamburg-Nienstedten, Karl-Jacob-Straße 45, am 16. Mai seinen 70. Gebutstag feiert. Erlauben Sie mir, Ihnen zu erzählen, wie Oberst Fabricius mein Freund wurde - und nicht nur der meine.
Auf dem Wege von Avignon nach Paris wurde die Abteilung des Obersten beim Durchzug durch Sombernon angegriffen. Während des nun folgenden Kampfes erlitt der Oberst am Eingang meines Hotels eine schwere Verwundung. Er wäre verblutet, wenn ich ihn nicht im Saal gebettet und den Arzt Dr. Bocard geholt hätte, der sofort mitkam, den Obersten verband und das Blut zum Stillstand brachte. Als der Kampf vorbei war, wurden die vier verwundeten Deutschen ins Lazarett von Dijon transportiert.
Unterwegs traf dieser Transport eine Kompanie Infanterie, die den Auftrag hatte, dem angegriffenen Zug zu Hilfe zu kommen und das Dorf Sombernon als Vergeltungsmaßnahme zu zerstören. Der Oberst, dem von diesem Befehl Bericht erstattet wurde, gab sofort einen Gegenbefehl und rettete so unser Dorf vor dem Schicksal Oradours.
Ich habe später gehört, daß dieser Zerstörungsbefehl von Herrn Hitler stammte, der angeordnet hatte, daß die Orte, in denen solche Angriffe stattfanden, zu zerstören seien - eine sehr harte Vergeltung für die Zivilbevölkerung, die an solchen Dingen nicht aktiv teilgenommen hatte. Durch seine Intervention hat sich der Oberst diesem Befehl entgegengestellt und riskiert, daß man ihn für diese Insubordination zur Rechenschaft ziehen würde.
Wir, die Einwohner von Sombernon bleiben ihm immer dankbar dafür, daß uns nicht das gleiche Schicksal beschieden wurde wie den Bürgern von Oradour. Wir erkennen dankbar an, daß er es trotz seiner schweren Verwundung nicht zuließ, daß die Rachsucht den Sieg über die Menschlichkeit davontrug. So hat er beispielhaft gehandelt und mehr zur französisch-deutschen Verständigung beigetragen als manche anderen Soldaten und Politiker auf beiden Seiten. Darum ist und bleibt für immer der Oberst Fabricius mein Freund - ein Mann, würdig der Dankbarkeit der Franzosen und der Deutschen.

Empfangen Sie, meine Herren, meine respektvollen, freundschaftliche Grüße. Eine alte Patriotin von 84 Jahren wünscht Ihnen und ganz Deutschland viel Glück.

Berthe Large."
 

Das ist der Brief aus Sombernon. Und wie gesagt, gestochen klar sind die Schriftzüge der Greisin. Klar wie die Gedanken, die Zeile für Zeile aus diesem Dokument sprechen.

*

Der hochgewachsene Mann, der mich vor der Tür des Hauses in der stillen Nienstedtener Karl-Jacob-Straße empfängt, gibt mir die linke Hand. Der rechte Ärmel hängt herunter. "Ja, das ist eine Erinnerung an Sombernon", sagt der ehemalige Oberst Ludwig Fabricius, "aber wenn die gute Madame Large nicht gewesen wäre, könnten Sie mich hier nicht besuchen. Und meinen 70. Geburtstag hätte ich auch nicht mehr erlebt..."

*

Wir sitzen im behaglich eingerichteten Wohnzimmer und der Blick geht hinaus auf die blühenden Magnolienbäume in den Gärten am Rande der Elbe. Ludwig Fabricius lächelt: "Nun hat die brave Madame Large auch noch die Zeitung alarmiert. Eine tolle Frau..."

Und in unserem Gespräch wird noch einmal ein Tag vor elf Jahren lebendig. Ein Augusttag in Frankreich - damals, als der Zweite Weltkrieg seinen chaotischen Höhepunkt an der Westfront erreicht hatte. "Ich war Verbindungsoffizier der Luftwaffe zum Heer in Avignon", erzählt der einstige Oberst. "Am 15. August hatte ich einen Auftrag in Paris zu erfüllen. Wir fuhren in einem Lastwagen-Konvoi. Die Landstraßen waren damals schon sehr unsicher durch Überfälle der Widerstandskämpfer. Als wir in eine S-Kurve in das Dorf Sombernon einbogen, erhielten wir plötzlich Feuer. Angehörige des ´Maquis´ hatten auf dem Dach eines Omnibus Maschinengewehre aufgebaut, die Garben spritzten uns entgegen. Ich sprang vom Wagen - und vor der Tür des Gasthauses hat es mich dann am Arm erwischt..."

Dann geht diese Geschichte genau so weiter, wie es Madame Large in ihrem Brief beschreibt. "Eine weißhaarige Frau zog mich in die Gaststube", berichtet Herr Fabricius. "Sie legte mich auf ein Sofa, rannte fort - und kam bald darauf mit drei Männern zurück: dem Arzt, dem Bürgermeister und - dem Pfarrer... Aber soweit war es zum Glück noch nicht ganz."

*

Morgens um acht Uhr, als der verwundete Oberst mit drei Kameraden nach Dijon zurücktransportiert wurde, begegnete ihnen eine Infanteriekolonne. Der Oberst fragte den jungen Oberleutnant: "Was haben Sie für Befehle?"

Der Oberleutnant: "Wir sollen helfen - und dann das Dorf zerstören..."
Der Oberst: "Ich habe festgestellt, daß keine Dorfbewohner an dem Überfall beteiligt waren. Daher verbiete ich die Zerstörung des Ortes..."
Im Lazarett von Dijon wurde dem Obersten Fabricius der rechte Arm amputiert. Aber er blieb am Leben. Und auch die Häuser des kleinen Dorfes Sombernon blieben erhalten. Das ist eigentlich die ganze Geschichte. Eine Geschichte, die gewiß nicht einmalig dasteht - denn oft, sehr oft, hat auch im unbarmherzigsten Krieg die Menschlichkeit über die Härte triumphiert. Auf allen Seiten und an allen Fronten. Aber die Stimme der Härte ist lauter als die Stimme der Menschlichkeit.
Doch diese Geschichte geht weiter - und diese Fortsetzung ist vielleicht das Beste an ihr.
*

"Gleich, als wir Deutsche wieder brieflich mit der Außenwelt in Verbindung treten durften, habe ich an meine Lebensretterin geschrieben und mich noch einmal bedankt", sagt Ludwig Fabricius. "Sie schrieb sofort zurück..."

Mein Gesprächspartner hat jetzt schon einen ganzen Schnellhefter mit den Briefen der Madame Berthe Large. Sie berichtet von ihrem kleinen Leben in ihrem kleinen Dorf - von dem netten neuen Bürgermeister, von den Küken, die langsam groß werden, von dem Schwein, daß eben geschlachtet wurde. Sie berichtet von den Torheiten der Politiker aller Länder, von der Predigt, die der Pfarrer am letzten Sonntag in der Kirche gehalten hat.
Und dann steht darin ein Satz: "Jeden Abend bete ich ein ´Ave´ für den guten Oberst, der unser Dorf gerettet hat. Es ist unmöglich, diesen Tag jemals zu vergessen..."
*

Vor einem Jahr betrat der einstige Oberst Ludwig Fabricius aus Hamburg - diesmal in Zivil - wieder die Gaststube des Hotels von Sombernon. Gemeinsam mit seiner Frau und seiner Tochter. Fast genau zehn Jahre nach jenem Tag, von dem hier die Rede war.

"Wir sind uns um den Hals gefallen, die über 80jährige Madame Large und ich", erzählt er. "Es war ein rührendes Wiedersehen. Und alle waren sie gekommen: der Bürgermeister, der Arzt , der Pfarrer und viele Dorfbewohner. Die alte Frau holte uralten Burgunder in staubigen Flaschen aus dem Keller..."
*

Das also ist die Geschichte des deutschen Obersten Ludwig Fabricius aus Hamburg, der einer greisen Französin sein Leben verdankt. Die Geschichte eines Dorfes, das wiederum der gleiche Oberst vor dem Untergang bewahrte. Eine ganz simple Geschichte, wenn man will. Übrigens: Madame Berthe Large verlor ihren Mann und ihren Sohn im Ersten Weltkrieg.

Beim Durchblättern der Briefe mit den schmalen, festen Buchstaben lese ich auch: "Es gibt gute und schlechte Deutsche - wie es gute und schlechte Franzosen gibt..." Viele unter uns könnten eine ganze Menge lernen von dieser einfachen alten Frau aus dem kleinen Dorfe Sombernon jenseits der Grenze.

Karl Heinz Christiansen

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