Die
Welt, 16.5.2001, S.8 (Gastkommentar)
Überlasst Milosevic
den Serben |
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VON
SHLOMO AVINERI |
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In
der jüngsten Vergangenheit hat sich in Jugoslawien viel ereignet,
und vieles davon war überraschend. Milosevic
konnte verhaftet werden - ohne Blutvergießen, welch ein Erfolg!
Eine Schlüsselentscheidung, die Serbien und seine neue Führung
zu treffen hat, berührt die Frage, ob Milosevic nach Den Haag ausgeliefert
werden soll oder nicht. Es scheint einen nachgerade universalen Konsens
darüber zu geben, dass es zu einer Auslieferung kommen sollte, und
auf Präsident Kostunica wirkt internationaler Druck ein. Was die
Zukunft Serbiens betrifft, ist dies jedoch eine Entscheidung über
Leben und Tod.
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Die
letztendliche moralische Verantwortung für die Taten Milosevic' liegt
beim serbischen Volk. Dieses Volk hat Milosevic zur Macht verholfen; man
hat Milosevic sogar noch unterstützt, als er sein Volk in den Genozid
geführt hat und eine Niederlage der anderen folgte. Schließlich
wurde er gestürzt, und die neue demokratische Führung Belgrads
hat ihn - nicht ohne Gefahr für ihre eigene Stellung und ihr eigenes
Ansehen - in Haft genommen. Diese Verhaftung hätte auch mit
einem Blutbad enden können, was die noch immer unsichere demokratische
Regierung womöglich destabilisiert hätte. |
Die
Situation in Serbien unterscheidet sich zutiefst von jener nach dem Zweiten
Weltkrieg. Damals gab es im besiegten Deutschland keine innere Instanz,
die die Verbrechen des Nationalsozialismus hätte unter Anklage stellen
können. Der Weg von Nürnberg war der einzig mögliche, auch
wenn über ihm der Schatten der "Siegerjustiz" lag. Natürlich
besteht die Gefahr, dass das serbische Volk diese Prüfung nicht besteht
und dies wiederum ihre fragile Demokratie erschüttert. Aber der Schatten
einer neuen "Siegerjustiz" - selbst wenn die Unterstellung in
dem Sinne falsch ist, weil die Anklagepunkte gegen Milosevic internationalem
Recht entsprechen - ist für Serbien heute gefährlich. Denn
dieses Land hat mit Mut und ohne Hilfe von außen den Diktator kaltgestellt
und für seine Demokratie gerungen. |
Der
neuen Führung Jugoslawiens sollte also ermöglicht werden, mit dem Fall
Milosevic auf eine Art und Weise umzugehen, die der Förderung der Demokratie
innerhalb Jugoslawiens dient. Auf diese Weise gewänne der Prozess an Legitimität
und Glaubwürdigkeit, insbesondere unter den zahlreichen Serben, die bis heute
einer gewissen Erziehung bedürfen, um das wahre Ausmaß der von Milosevic
begangenen Verbrechen zu begreifen. Und am wichtigsten ist es, dass die Serben,
die in großer Zahl das alte Regime unterstützt haben, bei der Aufarbeitung
des Falls Milosevic dazu genötigt werden, sich mit ihrem eigenen Verhalten
auseinander zu setzen und mit ihrem eigenen Gewissen fertig zu werden. Nur durch
dieses Verfahren wird Serbien eines Tages in der Lage sein, sich wieder der Reihe
der feien und gesunden Nationen Europas anzugliedern. |
Politische
Gerichtsverfahren (und Verhandlungen über Kriegsverbrechen stellen immer
politische Verfahren dar) dienen nicht nur der Bestrafung, sondern müssen
auch belehren. Die Lektion, die die serbischen Bürger aus einer Verhandlung
gegen Milosevic lernen können, sollten serbische Richter erteilen, die innerhalb
eines normativen Systems Recht sprechen, das die meisten Serben als rechtmäßig
anerkennen. |
Das
internationale Geschrei nach einer Auslieferung Milosevic' nach Den Haag ohne
Rücksicht auf die politischen Konsequenzen ist verständlich. Und doch
ist die Ausübung von Druck nicht sehr weise und in gewisser Weise auch scheinheilig.
Schließlich liegt es in der Hand der friedenserhaltenden Streitkräfte
in Bosnien, die vor dem Haager Gerichtshof Angeklagten Radovan Karadzic und General
Ratko Mladic, den Anführer der bosnischen Serben, zu inhaftieren. Bisher
wurde nichts dergleichen unternommen, und es deutet auch nichts auf eine entsprechende
Initiative der Streitkräfte hin. |
Warum
diese Untätigkeit? Offensichtlich sind politische Gründe die Ursache
dafür. Die britische, französische und die US-amerikanische Regierung
riskieren nur ungern das Leben ihrer Soldaten, um diese Erzverbrecher einer gerechten
Strafe zuzuführen. So konnten sich Karadzic und Mladic der Verhaftung entziehen;
so sind Jahre seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton vergangen.
Sollten die politischen Zwänge von Präsident Kostunica und die Empfindlichkeiten
des serbischen Volkes nicht ebenso berücksichtigt werden? Lohnt es sich wirklich,
die Stabilität der noch in den Kinderschuhen steckenden jugoslawischen Demokratie
zu Gunsten eines Prozesses aufs Spiel zu setzen, den Jugoslawien allem Anschein
nach selbst bewältigen kann? |
Wenn
in Belgrad nun eine Kommission für Wahrheit und Versöhnung ins Leben
gerufen wird, deutet das darauf hin, dass die gegenwärtige jugoslawische
Führung verstanden hat, dass sie die Wunden heilen muss, die ihrem Volk durch
das mörderische Regime zugefügt wurden. Die internationale Gemeinschaft
sollte dem serbischen Volk so viel Mitgefühl und Verständnis entgegenbringen,
wie sie walten lässt, wenn es darum geht, unter Lebensgefahr für die
eigenen Soldaten Karadzic und Mladic festzunehmen.
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Shlomo
Avineri ist Professor für Politische Wissenschaften an der Hebrew University
Jerusalem und ehemaliger Generaldirektor des israelischen Außenministeriums.
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