Süddeutsche
Zeitung, 4.2.1961, S. 6
Der Algerien-Rapport
des Reserveobersten Jules Roy
Ein französischer Schriftsteller beschwört seine Landsleute
zum Verhandeln mit seinen Landsleuten
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Von
unserem Redaktionsmitglied Maxim Fackler |
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Mit
keinem Roman und mit keinem Theaterstück hat der französische
Schriftsteller Jules Roy, Freund des verstorbenen Albert Camus, einen
solchen Erfolg errungen wie im vorigen Jahr mit seinem Buch über
den Krieg in Algerien. Roy hat früher den Prix Renaudot und den Prix
Enghien erhalten; diesen Auszeichnungen der literarischen Welt wird für
seine algerische Dokumentation, Klage und Anklage kaum eine neue Auszeichnung
ähnlicher Art folgen; aber das Echo auf La Guerre d´Algérie
ist nachhaltiger als alle Preise. Die Erregung, die den Autor in Algerien
erfaßt hat, hat sich auf seine französischen Leser übertragen
und sie ist noch nicht abgeklungen. Neu liegt die Übersetzung ins
Deutsche vor. (Jules Roy: Schicksal Algerien. Classen-Verlag Hamburg.)
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Jules
Roy, von dem in Deutschland zum erstenmal 1948 Auszüge aus einem
Fliegertagebuch erschienen sind, und der dann bekannter wurde, als 1953
in Baden-Baden sein Stück Die Zyklone aufgeführt wurde,
ist von Geburt Algerier. Von Beruf war er Soldat, rund ein Vierteljahrhundert
lang, bis er als Oberst der Luftwaffe den Dienst quittierte. Seitdem lebt
er als Bauer in Frankreich. Im vorigen Jahr trieb es ihn, der gleich Marschall
Juin der Sohn eines in Algerien stationierten französischen Gendarmen
ist, zurück in die Heimat. Den "schmutzigen Krieg" in Indochina
hatte er noch mitgemacht; danach war er Zivilist geworden. Die Heimat
kannte er kaum noch, Algerien war eine Entdeckung. Er machte sie an Hand
seines dort lebenden Bruders und der Schwägerin, die in seinem Bericht
als Gesprächspartner nun Kronzeugen sind. Er suchte das jetzt von
Mohammedanern bewohnte väterliche Haus auf; er sprach mit Hauptleuten,
Pfarrern, Beamten, Fellaghas und mit den "kleinen Weißen",
denen Algerien nicht anders als den Mohammedanern die Heimat ist. Die
beschwörenden Worte, die er nach seiner Rückkehr an seine Landsleute
richtete, kamen ihm beim Anblick der trostlosen Lager, in denen die aus
dem Kampfgebiet ausgesiedelten Algerier leben, und auf der Fahrt entlang
der Barrage Morice, jenem elektrisch geladenen Stacheldrahtverhau,
das Ostalgerien von Tunesien trennt.
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Jules
Roy, der sich keiner parteipolitischen Richtung verschrieben hat und der
in seinen frühen Fliegertagebüchern an Saint-Exupéry erinnert,
sieht Böses auf beiden Seiten, aber für ihn liegt in der französischen
Waagschale schwerstes Unrecht. Der Geist jener braven kleinen Franzosen,
jener tüchtigen Männer und Frauen, die sich in die Arbeit verbeißen,
den Mohammedanern aber in einer Weise begegnen, als seien sie nur Zubehör
des Landes, läßt Roy die Zornesader anschwellen; der Ungeist
also, den er dann, ohne Schonung auch für Bruder und Schwägerin,
beschreibt. So entspinnt sich mit dem Bruder René
und mit der Schwägerin Louise folgendes Gespräch, nachdem man
zuvor zusammen über die reichen Colons geredet hat, die an die
"Befreiungsfront" (FLN) Abgaben zahlen, damit sie verschont bleiben,
und die ihr Kapital in der Schweiz haben. |
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Das
große Gespräch mit dem Bruder |
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"Aber
wir, wir müssen hierbleiben", sagt René.
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Darum,
sagte ich, müßten sie die Sache in Ordnung bringen und nicht
die reichen Colons, die doch nur einen kleinen Teil der Europäer in
Algerien ausmachten. |
"Aber
sie haben das Geld", sagte René, "sie können in Frankreich
erzählen, was sie wollen und auf sie hört man. Wenn es nur um
uns ginge, wir würden mit den anderen schon einig werden, das kannst
du mir glauben." |
"Und
wie?" |
"Wir
würden zu ihnen sagen: ´Ihr wollt für eure Arbeit so viel
bekommen wie wir? Einverstanden. Ihr wollt Leute wählen, die eure Interessen
wirklich vertreten? Bitte sehr. Ihr wollt eure Kinder in die Schule schicken,
damit sie die Prüfungen machen und Beamte, Ärzte oder Ingenieure
werden können? Die Prüfungen sind für alle gleich. Ihr wollt
Grund und Boden haben? Nehmen wir ihn doch denen weg, die zuviel davon haben,
und gegen wir ihn denen, die nicht genug haben. Aber wenn ihr uns ins Meer
drängen wollt, dann kann ich euch nur sagen, da könnt ihr lang
warten. Denn wir werden uns verteidigen, weil das nicht gerecht ist. Autos,
soviel ihr wollt, wenn ihr auch durch die Gegend fahren und euch unbedingt
den Hals brechen müßt. Aber wir sind hier geboren so wie ihr,
und wir sind hier zuhause, weil wir keinem etwas gestohlen haben.´
Ja, du kannst mir glauben, ich würde mit ihnen einig werden."
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"Du
schon", sagte Louise, "aber sie? Sie sind doch zu dumm." |
"Ach
laß...", sagte René. |
"Du
weißt doch, wie sie sich in der Schule anstrengen müssen, um
mit den Europäern mitzukommen." |
"Vielleicht
deshalb, weil sie zwei Sprachen sprechen", sagte ich. |
"Nein.
Sie können es einfach nicht. Das ist zu hoch für sie. Und sie
strengen sich auch nicht richtig an." |
Ein
Vetter war zum Abendessen zu uns gekommen; er war Lehrer und unterrichtete
an der Volksschule von Ménerville. |
"Ich
kann dir nicht recht geben", sagte er bedauernd. "Die fünf
Besten in meiner Klasse sind Araber. Sie können sehr gut folgen. Ich
möchte sagen, sie haben einen echten Wissensdurst." |
"Aus
Eifersucht auf die Franzosen", sagte Louise. "Sie würden
sich am liebsten zu Tode schuften." |
"Das
verstehe ich nicht", sagte ich. "Eben hast du doch noch gesagt,
sie seien faul." |
"Von
Natur ja. Aber wenn es darum geht, zu zeigen, daß sie mehr wert sind
als wir..." |
"Weißt
du", sagte ich, "du darfst nicht glauben, daß sie mit diesem
Ehrgeiz allein stehen. Das ist doch ganz menschlich." |
"Na
schön." Louise gab sich geschlagen. "Kann sein. Kann ja sein,
daß sie intelligenter sind als wir und daß sie ebensogut wie
wir Autos reparieren können. Vielleicht haben die Läuse sie so
klug gemacht." |
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Niemand
lachte. Ich war bestürzt. Ich wollte gern zugeben,
daß der Kummer zu einer gewissen Ungerechtigkeit führen kann,
aber ich hatte Mühe, eine solche Verblendung zu verstehen. Dabei hat
Louise ein gutes Herz. Ich habe oft erlebt, daß sie den Tränen
nahe war, wenn ein Nachbarskind krank lag oder René übermüdet
von der Arbeit kam. Aber es scheint, als sei sie dem Unglück gegenüber
völlig gleichgültig, wenn es die Araber trifft. Sie sagt nicht
"sie sind arm", sondern "sie sind verlaust", weil sie
in ihrer Jugend kleine Araber voller Ungeziefer gesehen hat. Sie glaubt
offenbar, daß in den Haaren der Europäer keine Läuse leben
können. Noch heute morgen hat sie von den Ärmsten, die in den
Internierungslagern leben, gesagt: "Manche haben nur Gras zu essen..."
Wurzeln oder Brennesselsuppe. Und das ließ sie anscheinend völlig
kalt; man beklagt ja auch das Schicksal des Viehs nicht. Man kann Louise
nicht dafür verantwortlich machen. Vor fünfzig Jahren dachten
wir alle so, und für viele hat sich eben nichts geändert. |
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Bei
Louisens gutem Herzen nun knüpft Roy gewissermaßen an, wenn er
zu seiner fundamentalen Forderung kommt: Frankreich muß mit den Männern
von der FLN verhandeln. Er schockiert alle Hauptleute und Obersten,
denn beim Anblick der Aufschrift auf einer Hauswand, die lautet "Fellagha,
ergib dich. Du bist verloren!" wagt er die Umkehrung des Spruchs als
politische Weisheit anzubieten. Man solle schreiben, sagt er "Fellagha,
komm zurück. Du hast gesiegt." Damit meint er nicht einen militärischen
Sieg, denn diesen haben die Aufständischen nicht errungen und werden
ihn nicht erringen. |
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Freilich
bleibt militärisch auch für Roy offen, was geschehen könnte,
wenn Ferhat Abbas und seine Männer den Krieg wirklich internationalisieren:
wenn der Osten massiv eingriffe. Als politische Folge sieht er dann das
kommen, was die braven Hauptleute, an deren Integrität und Tapferkeit
Roy nicht zweifelt, schon für den heutigen Tag glauben: Sie verteidigten
Algerien vor dem Kommunismus, sie verteidigten hier den Westen. |
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Gespaltene
Armee |
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Es
gibt Offiziere, die Roys Buch für weinerlich oder literarisch halten.
Marschall Juin, General Jouhaud, General Challe, der seinen NATO-Posten
aufgibt, um nicht länger de Gaulle dienen zu müssen, verdammen
die Algerien-Politik des Präsidenten gerade in den Punkten, in denen
sie Roys Thesen am nächsten kommt. Der brave Hauptmann, Roys Gesprächspartner,
wird gehorchen, was immer de Gaulle befiehlt. Aber, so sagte General Costes
als Zeuge im Pariser Barrikadenprozeß, es gibt zwei Armeen: eine,
die gehorcht, und eine, die Befehle nur als Diskussionsgrundlagen ansieht.
Diese Aussage hat viele erschreckt, und sie hat die Frage wieder dringlicher
gemacht, ob de Gaulle, wenn er mit den Aufständischen der FLN verhandeln
wollte, die Hand frei hat und wann er wohl den großen Schritt wagen
könne. |