Südkurier,
6.2.1965, S. 1 (Kommentar)
Die dünne Decke
Von Alfred Gerigk
|
|
Durch
einen purpurroten Vorhang betritt der Staatspräsident den Saal des
Pariser Elysee-Palasts; mit rotem Samt ist der Rednertisch bekleidet,
an dem er Platz nimmt; der Stuhl, auf den er sich setzt, hat einen thronartigen
Charakter; schwere prächtige Kristall-Leuchter hängen von der
Decke des riesigen Raumes, in dem an die tausend Menschen, Journalisten
und Diplomaten bereit sitzen, um zu hören, was de Gaulle erzählen
wird.
|
So
schildert ein Zuschauer die Szene bei der Pressekonferenz, die der französische
Staatschef am Donnerstag abhielt. |
Das
Weiße Haus in Washington, Sitz des USA-Präsidenten, beherbergt
ein winziges Kinotheater. In diesem kleinen, einfachen Raum hatten sich
an die 150 Journalisten versammelt, als an dem gleichen Tag Johnson zur
Presse und damit zur Öffentlichkeit sprach. |
Zwei
Hauptstädte, zwei Länder, zwei Stile des Regierungssystems. |
Legt
man nebeneinander, was de Gaulle und Johnson sagten, so zeigt sich mindestens
in einem Punkt, daß die Meinungen |
Schon
im Wegverlauf aber weichen beide voneinander ab. De Gaulle will das kommunistische
China zum gleichwertigen Partner einer Konferenz machen, in der auch die
Sowjets, die USA und England sitzen und in der Frankreich gewissermaßen
als der Sprecher des westlichen Europa auftritt. Johnson aber will das Gespräch
durch einen Besuchsaustausch zwischen Washington und Moskau in Gang bringen
- jenem Moskau, mit dem Peking nun seit Jahr und Tag in Konkurrenz und schwerer
Auseinandersetzung steht. |
De
Gaulle setzt also darauf, einen West-Ost-Ausgleich eher erzielen zu können,
wenn er China ins Spiel bringt. Johnson setzt darauf, den West-Ost-Ausgleich
zu fördern, wenn er Moskau aufwertet, Peking aber unbeachtet läßt. |
Sowohl
De Gaulle wie Johnson betrachten den West-Ost-Ausgleich als den ersten,
die Lösung der deutschen Frage erst als den zweiten Schritt. Die Bundesregierung,
für die die deutsche Frage nicht an zweiter, sondern an erster Stelle
steht, ist also eingeklemmt zwischen der französischen Spekulation
auf Peking und der amerikanischen Spekulation auf Moskau. |
Dabei
ist in Rechnung zu stellen, was in der Berichterstattung über de Gaulles
Pressekonferenz bisher etwas zu kurz kam. Man hat aus de Gaulles Erklärungen
mit Recht den Eindruck gehabt, daß Erhards Besuch in Frankreich günstige
Stimmung für die deutsche Sache gemacht hat. Aber
de Gaulle hat auch einige Sätze gesagt, die die westdeutsche Bevölkerung
nicht überhören dürfte: |
Das
deutsche Volk könne durch seine Tüchtigkeit, sein Denken, seine
wissenschaftlichen Leistungen und seine militärischen Fähigkeiten
die Bewunderung, aber auch die Sorge anderer Völker hervorrufen. Die
gewaltige imperialistische Unternehmung des Dritten Reiches habe zwölf
europäische Staaten unterworfen. 40 Millionen Menschen seien dem Krieg,
10 Millionen Häftlinge den nationalsozialistischen Vernichtungsmaßnahmen
zum Opfer gefallen. Besonders im Osten sei das Mißtrauen vor
Deutschland noch groß. Aber auch in Westeuropa habe man oft mit Vorsicht
und Unbehagen den wirtschaftlichen Wiederaufstieg die Wiederbewaffnung und
das politische Erstarken der Bundesrepublik beobachtet. |
Erst
nachdem er diese Erinnerungen an die Belastung des heutigen Deutschland
mit der nationalsozialistischen Vergangenheit dargestellt hatte, fuhr de
Gaulle dann fort: |
Frankreich
wolle alles tun, damit Deutschland ein sicheres Element des Friedens und
des Fortschrittes bleibe. Unter dieser Bedingung wolle Frankreich auch bei
der Wiedervereinigung im Rahmen des alten Kontinents helfen. |
Der
deutsche Bürger muß sich - gerade auch nach den Worten des Gaulles
- klar darüber sein, daß die Decke des Vertrauens, auf der Deutschland
Politik treiben kann, in der Welt überaus dünn ist. Das kann nicht
oft genug bedacht werden; denn diese dünne Decke des Vertrauens könnte
brechen, wenn übereilte, eigenwillige, unverständliche Aktionen
erfolgten. Dann wäre die Bundesrepublik in Gefahr, eines Tages isoliert
zu sein. |
Nun
ist es im politischen wie im menschlichen Leben so, daß nicht nur
von den großen Dingen, sondern oft genug von den sogenannten "Kleinigkeiten"
das Zusammenleben abhängt. Staatenfreundschaften wurden ebenso wie
Ehen durch eine Fülle von Bagatellen statt großer Konflikte zermürbt;
denn was dem einen Bagatelle scheint, ist oft dem anderen ausschlaggebend
wichtig. Und eine solche Frage bedroht jetzt die Haltbarkeit der dünnen
Decke des Vertrauens: Die Auseinandersetzung über die Frage, ob die
Verjährungsfrist für nationalsozialistische Gewaltverbrechen im
Mai ablaufen soll - nach 20 Jahren, wie es den bestehenden deutschen Gesetzes-Vorschriften
über die Verfolgung von Mordtaten entspricht - oder ob man diese Frist
verlängern wird. Davon hängt ab, ob man nationalsozialistische
Morde, die erst nach dem Mai 1965 an den Tag kommen, gerichtlich verfolgen
kann oder nicht. |
Die
Franzosen haben im Dezember Verjährungsfristen für Verbrechen
gegen die Menschlichkeit aufgehoben, ebenso die Belgier. Im englischen und
im amerikanischen Recht gibt es für Mord überhaupt keine Verjährungsfrist.
Die amerikanische Volksabstimmung wendet sich sehr deutlich dagegen, daß
man in Deutschland die Verjährungsfrist für die nationalsozialistischen
Morde gelten lassen will. In England und in den skandinavischen Staaten
ist die Stimmung zwar anders. Aber auch aus einem neutralen Land wie der
Schweiz kamen Zeitungsstimmen, die von Empörung in der Welt, von der
Stimme des Weltgewissens, von einem unmoralischen Vorhaben der deutschen
Gesetzgebung sprachen, für den Fall, daß man die geltende normale
Verjährungsfrist für Mord auch gegenüber NS-Verbrechen bestehen
lassen werde. |
Die
Bundesregierung hat nun Erklärungen abgegeben, die es möglich
erscheinen lassen, daß man einen Weg findet, um die Verjährungsfrist
für nationalsozialistische Gewalt-Verbrechen abzuschaffen. Und das
ist gut so. In leichter Abwandlung eines Bibel-Wortes kann man sagen:
Nur wer Vertrauen im Geringsten rechtfertigt, wird Vertrauen auch im Großen
bewahren." Und dieses Vertrauen der Umwelt zu bewahren, ist die Voraussetzung
dafür, daß die deutsche Politik auf der dünnen Vertrauens-Decke,
auf der sie operieren muß, die schwierige Balancekunst nicht nur
zwischen West und Ost, sondern auch zwischen ihren eigenen Verbündeten
Frankreich und USA mit Erfolg weiter führen kann.
|