Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 54, 2004

2. Konfliktkontext und Konfliktparteien
2.3 Positionen und Interessen der Konfliktparteien
2.3.9 Aufdecken von Interessen, die hinter Positionen und vorgeblichen Gründen stehen
    Beispiel 2.3.9.1:

Süddeutsche Zeitung, 15.3.2002, S.4

Jugoslawiens Scheintod

 
VON BERNHARD KÜPPERS
 

Dem Königreich Jugoslawien aus der Zeit zwischen den Weltkriegen und dem Vielvölkerstaat des Kommunisten Tito folgte die Bundesrepublik Jugoslawien unter Milosevic. Sie war an ihrem Ende nichts weiter als ein Rumpfgebilde, zusammengehalten von taktischen Interessen des Augenblicks. Die serbische Opposition erbte bei der Machtübernahme im Belgrader Oktober dieses "dritte Jugoslawien". Tatsächlich war der Staat damals kaum mehr als eine Fiktion. Milosevic hatte eine leere Hülse hinterlassen, ausgebrannt und an den Rändern zerfetzt. Lediglich die Präsenz der jugoslawischen Armee in Montenegro und die formelle Wiedereingliederung Jugoslawiens in internationale Organisationen erinnerten an einen staatlichen Zusammenhalt.

Nun sollen Serbien und Montenegro, die Teilrepubliken dieses Restgebildes, unter anderem Namen und in einer neuen Konstruktion zusammengespannt bleiben. Der Wahlsieger über Milosevic, Vojislav Kostunica, nennt das Gebilde "originell". Der Geburtshelfer dieses Staates, EU-Chefdiplomat Javier Solana, gibt sich indes zufrieden. Er wird auf dem EU-Gipfel in Barcelona eine nicht ganz unkomplizierte Errungenschaft europäischer Balkanpolitik vorweisen können: Das politische Abkommen für die Verfassungscharta eines Serbien-Montenegro. Präsident Kostunica, Konkurrent des Wende-Organisators und serbischen Regierungschefs Zoran Djindic, kann sich als Geburtshelfer, als Mann des Aufbruchs und für die Anhänger eines großen Staatsgebildes als Bewahrer der Einheit präsentieren.
Bei den eigentlich Regierenden der Rumpfrepubliken Serbien und Montenegro ist hingegen wenig Begeisterung zu vernehmen. Djindjics Leute zweifeln vor allem an der wirtschaftlichen Funktionsfähigkeit des Gebildes. Dem montenegrinischen Präsidenten Milo Djukanovic steht die Furcht ins Gesicht geschrieben, weil er den vorläufigen Verzicht auf ein Unabhängigkeitsreferendum zu Hause rechtfertigen muss. Also pfeifen sie ein wenig im Wald und betonen um so heftiger, dass für das Unternehmen Staatsgründung in erster Linie die EU die Garantien übernommen habe. Die Frage ist nun, ob das vierte (Rumpf-)Jugoslawien wenigstens bis zur Anbindung Serbiens und Montenegros an die EU funktionieren wird.
Der EU ging es in erster Linie darum, einen Volksentscheid über die Unabhängigkeit in Montenegro - auf drei Jahre - abzuwenden. Nicht nur ein Belgrader Jura-Professor, der an den Verhandlungen als Experte beteiligt war, bekam den Eindruck: Die Mission Solanas zielte auf den bloßen Erhalt einer staatlichen Gemeinschaft Serbiens und Montenegros "egal welchen Inhalts". Ein Volksentscheid in Montenegro, der allenfalls eine knappe Mehrheit für Unabhängigkeit erwarten ließ, hätte längere innenpolitische Wirren in den schwarzen Bergen erwarten lassen. Allerdings kann auch die Entscheidung gegen den Volksentscheid zu inneren Unruhen führen.
Solana beförderte das Abkommen mit dem Argument, dass so der gemeinsame Weg in die europäische Integration leichter falle. Tatsächlich aber waren es vor allem auch ordnungspolitische Überlegungen der EU mit Blick auf den gesamten Balkan, die den endgültigen Zerfall Ex-Jugoslawiens entlang den Grenzen seiner ehemaligen Teilrepubliken aufgehalten haben.
Erstens: Kosovo. Das UN-Protektorat ist ein Provisorium, dessen Gebiet formell noch zu Jugoslawien gehört. Wären nun auch noch Serbien und Montenegro auseinander gebrochen, hätte das albanische Gelüste auf staatliche Selbständigkeit des Kosovo oder sogar darüber hinaus in Südserbien und Nordwest-Mazedonien beflügeln können. Zweitens: Kompensationen. Immer wieder wird die Gefahr beschworen, dass die Serben einen Ausgleich für verlorene Gebiete verlangen könnten, indem sie den Anschluss der bosnischen Serbenrepublik verlangen. Zwar erscheinen weder der Staatswunsch der Albaner noch die Angliederung der bosnischen Serbenrepublik derzeit wahrscheinlich. Drohen lässt sich allerdings bestens damit. So lassen sich internationale Entscheidungen über die Zukunft des Kosovo und der Dayton-Verfassung in Bosnien hinauszögern.
Der serbische Regierungschef und Mitunterzeichner Djindjic hat seine innere Distanz zu dem Abkommen ausgedrückt, indem er die Hauptrolle bei den Verhandlungen andern überließ. Glücklich kann er nicht sein über ein Staatswesen mit zwei Währungen und Zolltarifen. In Montenegro sieht sich Djukanovic jetzt schon des "Verrats" bezichtigt von den Unabhängigkeits-Pionieren, deren Stimmen er für seine Minderheitsregierung braucht. Belächelt wird er indes von der projugoslawischen Opposition, die nach Umfragen mehr Anhänger als seine Regierungskoalition hat.

Brüssel muss nicht glücklich werden mit seiner diplomatischen Errungenschaft. Solana hat den Köder ausgelegt, der auf dem Balkan die meisten Fische garantiert: Er stellt die Mitgliedschaft in der EU in Aussicht und verlangt die dafür notwendigen Anpassungen. Die Geschichte der EU-Erweiterung aber zeigt: Damit bürdet sich die Gemeinschaft auch die Verpflichtung auf, den Aspiranten beim Wandel zu helfen. "Wir werden nun jeden Tag mit Euch sein", sagte Solana. Es dürfte anstrengen werden.

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