Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 54, 2004

3. Perspektiven
3.1 Gefahren/Probleme vs. Hoffnung/Chancen eines Prozesses
3.1.4 Hinweis auf die Gefahren bei einer Nichtbeachtung der "gegnerischen" Perspektive
   Beispiel 3.1.4.1:

Die Welt, 16.5.2001, S.8 (Gastkommentar)

Überlasst Milosevic den Serben

 
VON SHLOMO AVINERI
 

In der jüngsten Vergangenheit hat sich in Jugoslawien viel ereignet, und vieles davon war überraschend. Milosevic konnte verhaftet werden - ohne Blutvergießen, welch ein Erfolg! Eine Schlüsselentscheidung, die Serbien und seine neue Führung zu treffen hat, berührt die Frage, ob Milosevic nach Den Haag ausgeliefert werden soll oder nicht. Es scheint einen nachgerade universalen Konsens darüber zu geben, dass es zu einer Auslieferung kommen sollte, und auf Präsident Kostunica wirkt internationaler Druck ein. Was die Zukunft Serbiens betrifft, ist dies jedoch eine Entscheidung über Leben und Tod.

Die letztendliche moralische Verantwortung für die Taten Milosevic' liegt beim serbischen Volk. Dieses Volk hat Milosevic zur Macht verholfen; man hat Milosevic sogar noch unterstützt, als er sein Volk in den Genozid geführt hat und eine Niederlage der anderen folgte. Schließlich wurde er gestürzt, und die neue demokratische Führung Belgrads hat ihn - nicht ohne Gefahr für ihre eigene Stellung und ihr eigenes Ansehen - in Haft genommen. Diese Verhaftung hätte auch mit einem Blutbad enden können, was die noch immer unsichere demokratische Regierung womöglich destabilisiert hätte.
Die Situation in Serbien unterscheidet sich zutiefst von jener nach dem Zweiten Weltkrieg. Damals gab es im besiegten Deutschland keine innere Instanz, die die Verbrechen des Nationalsozialismus hätte unter Anklage stellen können. Der Weg von Nürnberg war der einzig mögliche, auch wenn über ihm der Schatten der "Siegerjustiz" lag. Natürlich besteht die Gefahr, dass das serbische Volk diese Prüfung nicht besteht und dies wiederum ihre fragile Demokratie erschüttert. Aber der Schatten einer neuen "Siegerjustiz" - selbst wenn die Unterstellung in dem Sinne falsch ist, weil die Anklagepunkte gegen Milosevic internationalem Recht entsprechen - ist für Serbien heute gefährlich. Denn dieses Land hat mit Mut und ohne Hilfe von außen den Diktator kaltgestellt und für seine Demokratie gerungen.
Der neuen Führung Jugoslawiens sollte also ermöglicht werden, mit dem Fall Milosevic auf eine Art und Weise umzugehen, die der Förderung der Demokratie innerhalb Jugoslawiens dient. Auf diese Weise gewänne der Prozess an Legitimität und Glaubwürdigkeit, insbesondere unter den zahlreichen Serben, die bis heute einer gewissen Erziehung bedürfen, um das wahre Ausmaß der von Milosevic begangenen Verbrechen zu begreifen. Und am wichtigsten ist es, dass die Serben, die in großer Zahl das alte Regime unterstützt haben, bei der Aufarbeitung des Falls Milosevic dazu genötigt werden, sich mit ihrem eigenen Verhalten auseinander zu setzen und mit ihrem eigenen Gewissen fertig zu werden. Nur durch dieses Verfahren wird Serbien eines Tages in der Lage sein, sich wieder der Reihe der feien und gesunden Nationen Europas anzugliedern.
Politische Gerichtsverfahren (und Verhandlungen über Kriegsverbrechen stellen immer politische Verfahren dar) dienen nicht nur der Bestrafung, sondern müssen auch belehren. Die Lektion, die die serbischen Bürger aus einer Verhandlung gegen Milosevic lernen können, sollten serbische Richter erteilen, die innerhalb eines normativen Systems Recht sprechen, das die meisten Serben als rechtmäßig anerkennen.
Das internationale Geschrei nach einer Auslieferung Milosevic' nach Den Haag ohne Rücksicht auf die politischen Konsequenzen ist verständlich. Und doch ist die Ausübung von Druck nicht sehr weise und in gewisser Weise auch scheinheilig. Schließlich liegt es in der Hand der friedenserhaltenden Streitkräfte in Bosnien, die vor dem Haager Gerichtshof Angeklagten Radovan Karadzic und General Ratko Mladic, den Anführer der bosnischen Serben, zu inhaftieren. Bisher wurde nichts dergleichen unternommen, und es deutet auch nichts auf eine entsprechende Initiative der Streitkräfte hin.
Warum diese Untätigkeit? Offensichtlich sind politische Gründe die Ursache dafür. Die britische, französische und die US-amerikanische Regierung riskieren nur ungern das Leben ihrer Soldaten, um diese Erzverbrecher einer gerechten Strafe zuzuführen. So konnten sich Karadzic und Mladic der Verhaftung entziehen; so sind Jahre seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Dayton vergangen. Sollten die politischen Zwänge von Präsident Kostunica und die Empfindlichkeiten des serbischen Volkes nicht ebenso berücksichtigt werden? Lohnt es sich wirklich, die Stabilität der noch in den Kinderschuhen steckenden jugoslawischen Demokratie zu Gunsten eines Prozesses aufs Spiel zu setzen, den Jugoslawien allem Anschein nach selbst bewältigen kann?

Wenn in Belgrad nun eine Kommission für Wahrheit und Versöhnung ins Leben gerufen wird, deutet das darauf hin, dass die gegenwärtige jugoslawische Führung verstanden hat, dass sie die Wunden heilen muss, die ihrem Volk durch das mörderische Regime zugefügt wurden. Die internationale Gemeinschaft sollte dem serbischen Volk so viel Mitgefühl und Verständnis entgegenbringen, wie sie walten lässt, wenn es darum geht, unter Lebensgefahr für die eigenen Soldaten Karadzic und Mladic festzunehmen.

 
Shlomo Avineri ist Professor für Politische Wissenschaften an der Hebrew University Jerusalem und ehemaliger Generaldirektor des israelischen Außenministeriums.
(Bild)

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