Südkurier,
12.1.1952, S. 1 (Kommentar)
Eine
Träumerei von Robert Schuman
Von Dr. Gustav Adolf Groß
|
|
Da
werden also eines Tages in Trier, Brüssel oder Luxemburg 9 Herren
aus 6 verschiedenen Ländern zusammenkommen, denen nichts geringeres
anvertraut ist, als eine neue Epoche der wirtschaftlichen Zusammenarbeit
Europas einzuleiten. Jeder von ihnen wird nachdenklich gestimmt sein,
wenn er zum ersten Male die Schwelle des Konferenzzimmers überschreitet
und Platz an dem großen runden Tisch nimmt, der vielleicht gar nicht
viel anders aussieht als ein großer Stammtisch. In der Mitte befindet
sich ein Gestell mit einem Schild. Auf dem stehen in gewichtigen Lettern
die zwei Worte: Hohe Behörde.
|
Von
der Gemütlichkeit eines Stammtisches will natürlich hier nichts
aufkommen. Schwer lastet die Verantwortung auf jedem einzelnen. Was hier
besprochen und beschlossen werden soll, wird sich auf Hunderte von Betrieben,
auf Hunderttausende von Arbeitern und Angestellten, auf Millionen von Verbrauchern
auswirken. Der eine Delegierte sieht vor seinem geistigen Auge noch die
lodernden Stichflammen der Hochöfen Lothringens vor sich, denen er
gestern gegenüberstand; dem anderen tönt das unablässige
Surren und Poltern der Kohlenförderkörbe an der Ruhr im Ohr. Ein
dritter denkt zurück an das unermüdliche Hin- und Hergleiten der
Träger, Schienen und Bleche in den Walzwerken der Lombardei. Der Vorsitzende
klopft auf den Tisch. Die Gedanken-Bilder verblassen. Fast mit Gewalt eines
Zwanges bemächtigt sich jedes einzelnen das Gefühl: Du bist ja
nicht da, um das einzelne, dein Industriewerk, dein Land, sondern um das
Ganze zu vertreten. Das Ganze aber heißt: Europäische Kohle-
und Stahlgemeinschaft. |
"Träume
von heute sind die Wirklichkeiten von morgen." Manche meinten, es sei
(wie das Klavierstück "Träumerei" von dem romantischen
deutschen Komponisten Robert Schumann) ein wirklichkeitsentrücktes
Schwärmen, als der französische Außenminister Robert Schuman
dem alten Traum von einem einigen Europa in dem nach ihm benannten Plan
eine erste reale Grundlage zu geben versuchte. Aber der Außenminister
Schuman ist gerade deshalb ein erfolgreicher Staatsmann geworden, weil bei
ihm abwegede Nüchternheit und Phantasiereichtum zusammentreffen. Noch
vor einem Jahr erschien vielen die europäische Kohle- und Stahlgemeinschaft
als Utopie. Heute befindet sie sich in der Verwirklichung. Holland und Frankreich
haben den Vertrag bereits ratifiziert. Der Bonner Bundestag hat jetzt ebenfalls
zugestimmt. Italien, Belgien und Luxemburg werden folgen. Was dieser Montan-Union
höhere Bedeutung verleiht, ist ihr Charakter als Muster für weitere
europäische Zusammenschlüsse. Das Bild der europäischen
Wirtschaft beginnt sich zu verwandeln. Wohin geht die Fahrt? |
Dem
neuen Vertrag liegen reale wirtschaftliche Notwendigkeiten zu Grunde, die
so stark sind, daß sie schon von sich aus eine Lösung auf internationaler
Basis gefordert hätten. Jeder weiß, daß wir in Westeuropa
an folgendem kranken: Was der eine häufig zu viel hat, hat der andere
manchmal zu wenig. Der eine Staat hat Rohstoffe, aber Mangel an geeigneten
Arbeitskräften. Das andere Land erstickt an dem jährlichen Zuwachs
arbeitswilliger Hände, hat aber keine Bodenschätze. Hier fehlt
das Kapital, dort die technische Organisation usw. Wir hätten alle
mehr, wenn wir uns einig wären; vor allem hätten wir mehr an den
beiden wichtigsten Grundstoffen moderner Volkswirtschaften: Kohle und Stahl.
Ganz abgesehen davon, daß wir nicht auf ewige Zeiten die Kostgänger
Amerikas bleiben können. Alles was mit Kohle und Eisen zusammenhängt
(und mit Kohle und Eisen hängt wieder der Haushalt - und das Haus -
jedes einzelnen von uns zusammen), soll jetzt eine Gesamtlösung innerhalb
eines umfassenden Vertragswerkes finden, das oberste Leitungsbehörden
mit staatlichem Charakter und parlamentarische Kontrollen mit Beteiligung
der Arbeitnehmer vorsieht. |
Man
hat in bezug auf den Schumanplan von dem einheitlichen Markt der 150 Millionen
gesprochen. Gerade dieses Ziel der besseren Marktversorgung aller ist es,
das uns den Schuman-Plan in einem neuen, nein, in einem altbekannten und
vertrauten Lichte erscheinen läßt. Je tiefer wir uns in die Struktur
dieses neuen Wirtschaftsgebildes hineindenken, desto bekannter muß
uns das vorkommen, was ihm eigentlich und im Kerne zugrunde liegt. Es ist
der auf den zwischenstaatlichen Verkehr übertragene Geist genossenschaftlichen
Wirtschaftsdenkens. Deshalb ist es auch nicht von ungefähr, daß
der Gedanke zu einem ersten Zusammenschluß dieser Art in Frankreich
geboren wurde. Im Lande der großen Sozialphilosophen hat der Genossenschaftsgedanke
von jeher eine besondere Pflegestätte gehabt. Man kann es wirklich
nicht anders kennzeichnen: Die Montan-Union Schumans,
die weder monopolistisches Kartell noch Konzern noch bloße Unternehmer-Vereinigung
ist, stellt das erste Beispiel einer großen europäischen Wirtschaftsgenossenschaft
dar. Dämmert damit aber nicht überhaupt die Möglichkeit auf,
zwischen dem Extrem der freien kapitalistischen Ellbogen-Wirtschaft und
dem anderen Extrem der kollektivistischen Zwangsjackenwirtschaft auch international
den Weg zu einer wahren Verständigungs-Wirtschaft, zur echten Wirtschaftsdemokratie
zu finden? |
Die
tragenden Stützen der neuen Gemeinschaft sind Deutschland und Frankreich.
Beide haben mächtige Flöze, große (wenn auch nicht ausreichende)
Produktionsziffern an Kohle, beträchtliche Eisenerzvorkommen und eine
sehr beachtliche Zahl von eisen- und stahlerzeugenden und verarbeitenden
Hochöfen, Besemerbirnen, Siemens-Martin-Oefen, Walzstraßen und
Schmiedepressen einzubringen. Der Anteil der Bundesrepublik beträgt
bei Kohle über 50 (Frankreich 22), bei Stahl 35 (Frankreich 25) Prozent.
Demgegenüber bringt Italien wesentlich schwächere Posten an Kohle,
Erz und Stahl mit. Bei den drei Benelux-Ländern, von denen Belgien
das wirtschaftlich stärkere ist, hat nur dieses Kohle, Erz und Stahl.
Die Niederlande haben nur Stahl und Kohle, Luxemburg nur Stahl und Erz. |
Der
genossenschaftliche Charakter der neuen Gemeinschaft zeigt sich darin, daß
in dem Aufbau der Organisation nicht die materielle Einbringung, d.h. die
Tiefe und Ausdehnung der Flöze, die Mächtigkeit der Oefen usw.
entscheidet. Frankreich mit 25% Stahl und die Bundesrepublik mit 35% Stahl
haben jede nur 22,2% Anteil an den Stimmen der Hohen Behörde, dem obersten
Lenkungsorgan der Montan-Union. Sie hat neun Mitglieder: je zwei schicken
Deutschland und Frankreich (4), je eines schicken Italien, Belgien, Holland,
Luxemburg (4). Ein weiteres wird hinzugewählt. Der neunte Mann darf
kein Franzose oder Deutscher sein. |
Die
weitere Organisation ist etwas kompliziert. Neben der "Regierung"
(der Hohen Behörde) und dem Ministerrat dienen der parlamentarischen
Kontrolle: 1. ein aus 30-51 Mitgliedern bestehender Beratender Ausschuß
(je ein Drittel Erzeuger, Arbeitnehmer, Verbraucher); 2. eine Gemeinsame
Versammlung (je 18 Deutsche, Franzosen, Italiener, je 10 niederländische
und belgische, 4 luxemburgische Vertreter). Außerdem gibt es noch
einen Gerichtshof. (Der beratende Erzeuger-Ausschuß wählt übrigens
den Ministerrat). |
Vereinbarungen
wie der Schumanplan und alles, was aus ihm vielleicht folgt, sollen uns
das Leben wirtschaftlich nicht schwerer sondern leichter machen. Aber
solche Erleichterungs- und Entlastungsmöglichkeiten im komplizierten
Gesamtgefüge der westeuropäischen Wirtschaft zu entdecken, ist
nicht jedermanns Sache - sie in fruchtbare Wirklichkeit umzusetzen, nur
wenigen beschieden. Auch um Fortschritte auf dem Gebiete der Verwendung
von Kohlenflözen, Bessemer-Birnen, Walzenstraßen und Schmiedehämmern
zu erzielen, muß man hohe Phantasiekräfte anspannen, muß
man "träumen" können. Nicht nur die Unternehmer müssen
das, den Vertretern der Arbeitnehmer und Verbraucher ergeht es nicht anders.
Träume von heute sind die Wirklichkeiten von morgen. Eine Träumerei
von Robert Schuman wird jetzt Wirklichkeit. Wer
in Kohleflözen und Walzenstraßen nützlich zu träumen
weiß, schlägt Brücken aus der Not des Heute in eine bessere
Zukunft. Columbus träumte von Indien und entdeckte Amerika. Hier
wurde von Kohle und Stahl geträumt und entdeckt wird - Europa!
|