Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 54, 2004

4. Positionierung des Autors
4.2 Nationale Eigenperspektive des Journalisten bzw. Mediums –
wenn der Journalist einer direkt am Konflikt beteiligten Partei angehört
4.2.6

Anerkennung der eigenen Verantwortung und dessen, was die eigene Seite an Leid verursacht hat

    Beispiel 4.2.6.1: In den deutschen Nachkriegstexten findet man immer wieder solch allgemeine Formulierungen (wie z.B. "alles, was während des Krieges in Frankreich geschah"), die nur vage eine deutsche Verantwortung für französisches Leid andeuten. Dennoch wird der Autor im Laufe des Artikels recht konkret hinsichtlich der Anklagen, die Abetz, aber auch der deutschen Besatzung, zur Last gelegt werden, und mehr als einmal gibt er diese Handlungen nicht mehr nur im Konjunktiv der indirekten Rede von Zeugen und Anklägern, sondern im Indikativ, also als seiner Meinung nach tatsächlich geschehen, wieder. [Anm. S.J.]

Frankfurter Rundschau, 23.7.1949, S. 16

Der Prozeß gegen Otto Abetz
Drahtbericht unseres Frankreich-Korrespondenten Kurt Kornicker

 

PARIS, 22. Juli. Der Prozeß gegen Otto A b e t z, den ehemaligen Botschafter Hitler-Deutschlands in Paris zur Zeit der deutschen Besetzung, der sich seit anderthalb Wochen vor einem französischen Militärgericht im Pariser Justizpalast abspielt, wird von der hiesigen Oeffentlichkeit mit außerordentlicher Spannung verfolgt. Die Pariser Zeitungen widmen den Prozeßberichten einen weiten Raum. Einige Blätter, wie der "Figaro" und "L´Aurore" haben sogar regelmäßig seitenlange Auszüge aus dem stenographischen Protokoll veröffentlicht.

Die französische Justiz hat, trotz allem, was während des Krieges in Frankreich geschah und noch nicht vergessen, ist, alles Erdenkliche getan, um dem Angeklagten jede Verteidigungsmöglichkeit zu geben und vom ersten Tage an abstrahiert, daß hier auf der Anklagebank ein Deutscher, ein ehemaliger Gegner sitzt.
In dem Prozeß Abetz gab es drei Höhepunkte: die Anklagerede Paul R e y n a u d s, der Abetz des Mordversuches an ihm selbst und Léon B l u m bezichtigte und ihn bis zu einem gewissen Grade für das Ende des früheren französischen Innenministers Georges M a n d e l verantwortlich machte, ferner die Aussage eines anderen Zeugen, Maurice N è g r e, eines einflußreichen Mitgliedes der französischen Widerstandsbewegung, der als Geisel verhaftet wurde und dessen Hinrichtung Abetz gefordert hatte. Nègre erklärte, daß er trotzdem keinerlei Rachegefühl gegen Abetz hege. Er und seine Freunde hätten sich gegen Abetz gewehrt. Sie hätten das Pech gehabt, ihm in die Hände zu fallen und das sei alles, was er zu diesem Thema zu sagen habe.
Besondere Erwähnung verdient schließlich die Zeugenaussage des Generals von C h o l t i t z, des einstigen Militärbefehlshabers von Groß-Paris, der im August 1944 den Befehl erhielt, das bereits an vielen Stellen unterminierte Paris in die Luft zu sprengen und dessen Widerstand gegen den Befehl zu verdanken ist, daß Paris heute kein Ruinenmeer, sondern eine der schönsten und besterhaltenen Großstädte Europas ist. Choltitz erklärte, daß ihm Abetz dabei geholfen habe, und daß er seinerzeit in entscheidender Stunde gegen die Nichtausführung des Befehls keinen Einspruch erhoben habe
Der Anklagevertreter F l i c o t e a u x betonte, daß Abetz für eine ganze Reihe von Kriegsverbrechen, die in Frankreich während seiner Botschafterzeit begangen wurden, in vollem Umfang verantwortlich zu machen sei: 1. für die systematische Plünderung von Kunstschätzen, 2. für die Judenverfolgungen und Deportationen, 3. für die zwangsweise Verschleppung französischer Arbeiter nach Deutschland, besonders in der Zeit vom Mai bis November 1942 und 4. für die Deportation einer Anzahl französischer Generäle, Präfekten und hoher Verwaltungsbeamter. Außerdem müsse er für eine Reihe vorbereitender Handlungen verantwortlich gemacht werden, die zur Verhaftung und schließlich zu der Ermordung von Georges Mandel geführt hätten. Der Anklagevertreter betonte, daß Abetz nicht in seiner Eigenschaft als Deutscher, sondern als Kriegsverbrecher vor dem Militärgericht stehe und nur als solcher verurteilt werden dürfte. Er beantragte mit Rücksicht auf gewisse mildernde Umstände die Mindeststrafe von 20 Jahren Zwangsarbeit.
Der Verteidiger von Abetz, Floriot, erklärte in einer längeren Rede, daß Abetz auch unter den schwierigsten Verhältnissen aufrichtig für eine deutsch-französische Verständigung gearbeitet habe. Er habe sich keiner Kriegsverbrechen schuldig gemacht und oft gegen die Anweisungen seiner vorgesetzten Behörde gehandelt. Der Verteidiger betonte vor allem, daß die Gestapo ihre Schreckensherrschaft in Frankreich völlig selbständig und unabhängig von der deutschen Botschaft durchgeführt habe. Der Verteidiger gab seinem Bedauern darüber Ausdruck, daß das Gericht nur über einen verhältnismäßig kleinen Teil der Akten und einen winzigen Ausschnitt aus dem Telegrammwechsel verfüge, der zwischen Abetz und R i b b e n t r o p geführt wurde. Er plädierte auf Freispruch.

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