Diskussionsbeiträge der Projektgruppe Friedensforschung Konstanz, Nr. 54, 2004

4. Positionierung des Autors
4.2 Nationale Eigenperspektive des Journalisten bzw. Mediums –
wenn der Journalist einer direkt am Konflikt beteiligten Partei angehört
4.2.8

Distanzierung von eigenem Militär und früherer kriegerischer Elite

    Beispiel 4.2.8.1: Kommentar: Der Schreiber des Artikels distanziert sich komplett von irgendwelchen deutschen Militärs und mit sympathischem Spott scheint er den Leser auf seine Seite ziehen zu wollen. Die deutschen Besatzungsbehörden werden zu eitlen Witzfiguren. Stark bagatellisierend erscheint allerdings, dass den Parisern einfach "nicht mehr nach Singen zumute" war. Auch die Konstruktion des Nationalsozialismus als Irrlehre mit religiösem Charakter, deren Anhänger aus lauter Angst, lächerlich gemacht zu werden, keine Lieder mehr duldeten, erinnert eher an ein Märchen als dass es der Situation im besetzten Paris gerecht wird. [Anm. S.J.]

Südkurier, 8.2.1946, S. 3

Die Straßensänger in Paris
Von unserem Pariser F. C.-Korrespondenten

 

In den letzten fünf Jahren war aus dem Pariser Straßenbild eine Erscheinung verschwunden, die dem Leben der Stadt seit jeher eine besonders charakteristische Note gegeben hatte: die Straßensänger. In einem der ersten Filme von René Clair, einem der begabtesten französischen Regisseure, in "Sous les toits de Paris", wurden diese Straßensänger auf eine besonders hübsche Weise gezeigt. Der Film ist vielen deutschen Kinobesuchern Ende der zwanziger Jahre bekannt geworden, er hatte in Deutschland großen Erfolg. Diese Straßensänger sind keine Gaukler oder geschweige denn Bettler, ihr Beruf ist ebenso ehrenhaft, normal und von der Steuerbehörde erfaßt wie der des Schusters oder Barbiers. Sie pflanzen sich an einer belebten Straßenkreuzung, an einem öffentlichen Platz oder auch irgendwo auf dem breiten Fahrdamm einer Straße auf und im Nu sind sie von einer dichten Menge umgeben.

Mit dem Einmarsch der Wehrmacht in Paris verschwanden die Straßensänger aus dem Bild der Stadt. Einmal war den Parisern nach allem anderen zumute als nach Musik und Gesang, und auf der anderen Seite hatten die Besatzungsbehörden die Straßenmusik verboten. Es war zu gefährlich, Leute auf den Straßen singen zu lassen, die den neuen Herren nicht grün waren und sehr wahrscheinlich Liedertexte gesungen hätten, in denen über das Hakenkreuz und seine Anbeter gespottet worden wäre. Und das wäre bei dem unabhängigen, aufsässigen, zur Spottlust geneigten Charakter der Pariser auch nicht ausgeblieben.
Nun aber sind die Straßensänger wieder frei und ihre Lieder sind lustiger und sentimentaler, ihre Zuhörer begeisterter denn je. Der Pariser Rundfunk hat aus der Beliebtheit dieser Musikanten die Folgerung gezogen und veranstaltet mit einem Orchester und aus dem Publikum gewählten Sängern Straßenkonzerte. Diese Sendungen tragen den Titel "In meinem Stadtviertel wird gesungen", und sie gehören zu den beliebtesten Veranstaltungen des Pariser Senders.

Und während das alte fröhliche Gewerbe der Straßensänger seine Wiederauferstehung feiert, geht ein anderes, vom Krieg geborenes Gewerbe sang- und klanglos seinem Untergang entgegen. Es war etwa zur selben Zeit entstanden, als die Straßensänger verschwinden mußten, im Jahre 1940. Als von der Wehrmacht nach ihrem Einmarsch die meisten Automobile beschlagnahmt worden waren und die wenigen tausend nicht beschlagnahmten Wagen wegen Treibstoffmangel nicht mehr fahren konnten, erschienen auf den Straßen der Stadt die Fahrradtaxis. Erfindungsreiche und unternehmungslustige junge Leute, die keine feste Arbeit, aber dafür um so festere Waden hatten, bauten sich kleine zweirädrige Wägelchen mit einem Zeltstoffdach und ein oder zwei reichlich engen und unbequemen Sitzen, spannten ihr Fahrrad oder manchmal ein Tandem davor und beförderten verwöhnte Leute zu astronomischen Preisen quer durch Paris. Nun aber sind die richtigen Vorkriegstaxis wiedergekommen, von denen schon über viertausend im Betrieb sind. Die Fahrradtaxis sind verschwunden und so mancher dieser kräftigen Radfahrer mag heute am Steuer des Taxi sitzen, das er sich aus den Ersparnissen seiner Radfahrerzeit kaufen konnte. Auch Pferdedroschken sieht man kaum noch, die Konkurrenz der Automobile hat sie nach einer fünf Jahre langen Wiederkehr nun endgültig verschwinden lassen.

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