Süddeutsche
Zeitung, 20.9.1969, S. 4
Nur
noch ein Rest alten Argwohns
Die Wahlkampf-Bundesrepublik in französischer Sicht / Anerkennung
für unsere Sozial- und Wirtschaftsstrukturen
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Von
unserem Korrespondenten Klaus Arnsperger |
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Paris,
19. September
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im Nachbarland jenseits des Rheins am nächsten Wochenende Wahlen
stattfinden, ist bis jetzt erst von Frankreichs Berufspolitikern und von
einigen Intellektuellen zur Kenntnis genommen worden. Die Franzosen haben
zur Zeit andere Sorgen. Wird es der eigenen Regierung gelingen, mit der
sozialen Unzufriedenheit fertig zu werden und wird sie, vor allem, die
Preise halten können? Aus alter Tradition übrigens kümmert
sich Frankreichs Öffentlichkeit verhältnismäßig wenig
um Vorgänge außerhalb der blau-weiß-roten Grenzpfähle,
es sei denn, unmittelbare nationale Interessen stünden auf dem Spiel.
Da sich zur Zeit aber die nationalen Interessen vorwiegend auf die Probleme
der inneren Stabilität richten, dürften die Bundestagswahlen
hier nur in einem Fall allgemeines Aufsehen erregen: Falls es der
NPD gelingen sollte, in den Bundestag einzuziehen.
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Auf
den ersten Blick ist eine Bestandsaufnahme des französisch-deutschen
Verhältnisses für die Bundesrepublik eigentlich recht schmeichelhaft.
In der Sicht der meisten Franzosen ist zum Nachbarn
im Osten inzwischen eine fast problemlose Beziehung hergestellt, die zwar
noch weit entfernt ist von der emotionalen Hinneigung zu England, das nicht
nur wegen der bewährten Waffenbrüderschaft aus zwei Weltkriegen
alte und echte Sympathien genießt, sondern auch als Urquelle demokratischer
Tugenden in Europa. Verstärkt wird dieser allgemeine Hang zur
Anglophilie - trotz der bis jetzt noch gegenläufigen französischen
Außenpolitik - durch die inzwischen globale Ausbreitung der angloamerikanischen
Industriekultur, die mittlerweile auch von Frankreich in immer rascherem
Tempo Besitz ergreift. |
Bei
dieser Grundstimmung ist offenbar überraschend wenig Anlaß und
noch weniger Anreiz für die Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik
und deren Bewohnern vorhanden. Doch dieser Anschein täuscht: an der
Basis wachsen zwar in beiden Völkern Generationen heran, die in nunmehr
schon fünfundzwanzigjährigem friedlichen und freundschaftlichen
Kontakt miteinander leben, aber es gibt auch noch
die ältere Generation der von den Kriegen mit Deutschland stigmatisierten
Franzosen, die zwar meistens besten Willens, aber emotional nicht imstande
sind, die bitteren Lektionen ihrer Lebensgeschichte zu vergessen. |
Ein
Rest von Argwohn ist geblieben, obwohl sich heute manche Franzosen selbst
zerknirscht die Frage vorlegen, ob nicht General de Gaulles Politik des
nationalen Eigennutzes in der Bundesrepublik allzu gelehrige Schüler
gefunden habe. Doch die angeblich akute Gefahr eines deutschen Rückfalls
in radikalen Nationalismus wird nur von den Kommunisten ausdauernd heraufbeschworen.
Die Masse der Franzosen hingegen sieht im bisherigen politischen Verhalten
der Deutschen viel eher ein anderes altes Vorstellungsbild bestätigt:
arbeitsam, tüchtig, sparsam und ordnungsliebend. Vor allem ordnungsliebend.
In dieser Hinsicht schwankt die öffentliche Meinung, die so oft vom
spontanen gallischen Anarchismus befallen wird, noch immer zwischen Spott
und heimlicher Bewunderung. |
Doch
es gibt auch Anzeichen einer in die Tiefe gehenden Veränderung alter
Meinungsklischees über die deutschen Nachbarn. Zu viele persönliche
Kontakte sind inzwischen hergestellt. In den entlegensten Winkeln Frankreichs
stößt der Autofahrer auf Schilder, die an den Ortseinfahrten
verkünden, daß hier ein Patenschaftsverhältnis mit einer
Gemeinde der Bundesrepublik bestehe. Die Goethe-Institute leisten, vor allem
in der Provinz, eine wenig aufsehenerregende, dafür aber nachhaltig
ins Bewußtsein der jungen Intellektuellen dringende Arbeit für
das Verständnis deutscher Kulturwerte. Als die
Anfang August vor den Fernsehschirmen zur Schau gestellte selbstgerechte
Arroganz des Weihbischofs Defregger auch in Frankreich eine Welle empörter
Leserbriefe in die Zeitungen spülte und als sofort wieder ein unterschwelliger
Ton des Vorwurfs und des Mißtrauens an die Adresse der Bundesrepublik
laut wurde, da trat der wahrhaft bemerkenswerte Fall ein, daß die
linksliberale Zeitung Le Monde in einem Leitartikel um Respekt für
ein Land warb, das "aus moralischen Gründen und aus internationaler
Ehrbarkeit sich entschlossen hat, Verbrechen der Vergangenheit nicht zu
vergessen." |
Freilich
ist die Bundesrepublik mittlerweile auf eine viel profanere Art im Alltag
der Franzosen gegenwärtig. Als größter Handelspartner Frankreichs
überschwemmt sie das Land mit den Produkten ihrer Industrie und hat
damit nicht wenig dazu beigetragen, daß sich Frankreichs vormals von
Zollmauern geschützte und deshalb in vielen Branchen rückständige
Wirtschaft modernisiert und damit stärken muß. Die anfängliche
Sorge vor wirtschaftlicher Überflügelung durch die Deutschen wurde
zum Katalysator für eine strukturelle Verbesserung des französischen
Marktes. Die mehrfachen Krisen und die schließliche Abwertung des
Francs haben allerdings den Franzosen schmerzhaft zum Bewußtsein gebracht,
daß sie in ihrer industriellen Gesamtkapazität gegenüber
der Bundesrepublik erheblich im Rückstand liegen. Bezeichnend, daß
die sogenannte deutsche Gefahr für Frankreichs Industrie in der Öffentlichkeit
viel stärker empfunden wird als die amerikanische; dabei investieren
die USA sechsmal so viel in Frankreich wie in der Bundesrepublik. |
Noch
vor zehn Jahren allerdings wäre es kaum denkbar gewesen, daß
renommierte Publizisten und selbst Minister im Parlament das Nachbarland
als nachahmenswertes Beispiel eines sinnvoll organisierten und richtig
orientierten Industrie- und Sozialstaates empfehlen. Weit davon entfernt,
unter (auch gar nicht angebrachten) Minderwertigkeitsgefühlen zu
leiden, blickt der Durchschnittsfranzose dennoch mit gewissem Neid auf
die sozialen Errungenschaften und vor allem auf die in der Bundesrepublik
gefüllten Lohntüten, der Inhalt bis jetzt weit weniger rasch
entwertet wurde als in Frankreich. Vor allem viele der brillanten jungen
Technokraten sehen in dem vom Gift der Ideologien weitgehend frei gebliebenen
deutschen Sozialklima eine ideale Voraussetzung zur Bildung einer wirklich
egalitären Gesellschaft des industriellen Zeitalters. Bis jetzt will
man in Frankreich nicht recht glauben, daß die Deutschen dieses
ganze Kapital am 28. September aufs Spiel setzen, indem sie der NPD in
den Bundestag verhelfen.
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