Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 22.8.1959, Seite "Die Frau"
Colette
lernt tanzen
Deutsch-französischer Schüleraustausch
|
|
Ueber persönliche
Erfahrungen in Schule und Heim schreibt uns Oberstudienrat Alois Bießle,
Landau/Pfalz:
|
|
In
Frankreich haben bereits am 1. Juli die Ferien begonnen. Erstmalig gehen
sie dieses Jahr am 15. September zu Ende. Die rentrée des classes
wird also nicht mehr wie üblich am 1. Oktober sein. Die französischen
Zeitungsreportagen mit Bildern, die den Ansturm der Jugend auf die Buchhandlungen,
Schreibwarengeschäfte und Schulen nach überlanger Ferienzeit
bringen, werden dieses Jahr um 14 Tage vorverlegt werden müssen.
|
Für
den deutsch-französischen Schüleraustausch sind die langen französischen
Ferien eine günstige Voraussetzung. Diese günstige Voraussetzung
wird in steigendem Maße wahrgenommen. Vermutlich liegen die Zahlen
bereits erstaunlich hoch. Allerdings wird eine genaue Statistik nicht möglich
sein, weil sich dieser Austausch in der Hauptsache auf privater Ebene abspielt.
Er kommt meist zustande im Anschluß an den deutsch-französischen
Schülerbriefwechsel, der von den Kultusministerien der Länder
in Zusammenarbeit mit der französischen Botschaft in Bonn organisiert
wird. Er hat sich seit Jahren bewährt. Diese Feststellung ergibt sich
allerdings zunächst aus dem Blickwinkel von Rheinland-Pfalz, wo Französisch
bis vor zwei Jahren in der Hauptsache erste Fremdsprache war, dürfte
aber entsprechend auch für die anderen Länder gültig sein.
Aus diesem Briefwechsel entwickelt sich in sehr vielen Fällen die Einladung
zum gegenseitigen Besuch. Im allgemeinen ist es so, daß die jungen
Franzosen im Juli in Deutschland weilen (bzw. in den vergangenen Jahren
im September) und die deutschen Schüler den Monat August in Frankreich
verbringen. Schüler, die bis zum Abitur einen zwei- bis dreimaligen
Ferienaufenthalt in Frankreich (auch in England) hatten, sind heute keine
Seltenheit mehr. |
Von
Anfang Juli an füllen sich unsere Klassen mit französischen Schülern
und Schülerinnen. Manchmal sind es bis zu fünf oder sechs. So
haben die jungen Franzosen das Erlebnis einer deutschen höheren Schule.
An manchen Tagen verfolgen sie den ganzen Unterricht. Dabei schulen sie
ihr Ohr im Verständnis der deutschen Sprache. Im Französischunterricht
können sie mit eingespannt werden und tragen dadurch zur Auflockerung
bei. Leider haben unsere Schüler in Frankreich nicht das gleiche Erlebnis,
da sie dort nur in der Ferienzeit anwesend sind. Aufmerksam und diszipliniert
folgen die jungen Franzosen dem Unterricht. Besonders interessant wird es,
wenn sie beispielsweise im Geschichtsunterricht mitherangezogen werden können.
Im Französischunterricht lohnt sich das Einschieben einer französischen
Fragestunde etwa mit dem Thema: Die Unterschiede zwischen der deutschen
und französischen Schule. Und dann kommt die Frage der deutschen Schüler:
Habt ihr einen Wandertag? Der junge Franzose verneint und sagt: "Nous
travaillons." Dabei spricht er travaillons derartig prononciert, daß
alles lacht. |
Hier
muß nun der Lehrer einhaken und den Unterschied erklären. Wenn
auch die moderne Methode des Arbeitsunterrichts immer mehr in Frankreich
Eingang findet, so ist doch im ganzen gesehen die französische Schule
heute noch eine ausgesprochene Lernschule. Die "surmenage" (Ueberforderung
und Ueberanstrengung der Schüler) ist ein in Frankreich seit Jahrzehnten
von der Oeffentlichkeit, besonders von Aerzten und Pädagogen, diskutiertes
Problem. Im wesentlichen hat sich aber trotz der Erkenntnis, daß vielfach
Raubbau an der jugendlichen Gesundheit getrieben wird, nichts geändert.
Zwar jammert alle Welt, Eltern, Lehrer und Schüler, aber man möchte
auf das bestehende System nicht verzichten, da es doch die Herauskristallisierung
der so notwendigen geistigen Elite sicherzustellen scheint. Dabei ist es
so, daß nach Unterrichtszeit (auch nachmittags) und häuslicher
Aufgabenstellung (viele schriftliche Ausarbeitungen, die laufend durch Korrektur
überprüft werden) auch der gutbegabte französische Schüler
voll von seiner Schule in Anspruch genommen wird und abends, wenn er um
5 oder 6 nach Hause kommt, bis 10 oder 11 Uhr regelmäßig über
seiner Arbeit sitzt. Die verallgemeinerte Feststellung, daß unsere
deutschen Schüler in der höheren Schule hinsichtlich der häuslichen
Arbeit überfordert sind, ist stark übertrieben. Franzosen, die
die deutschen Schulverhältnisse kennen, lächeln nur mitleidig,
wenn sie hören, daß unsere Schüler überfordert sein
sollen. Die gleiche Erkenntnis teilt sich auch unseren Schülern mit,
wenn sie mit französischen Schülern in Berührung gekommen
sind. |
Und
nun ist Colette bei uns in der deutschen Familie mit zwei fast gleichaltrigen
Töchtern und einem jüngeren Sohn. Sie ist zum ersten Male in Deutschland
und als einzige Tochter fern von Vater und Mutter. Ein besorgter Begleitbrief
des Vaters weist darauf hin, daß sie ein sehr schweres Schuljahr hinter
sich hat und daß sie ruhebedürftig ist. Die entsprechenden aufbauenden
Medikamente bringt sie mit und die Bitte, zu überwachen, daß
sie sie auch regelmäßig nimmt. Dabei ist Colette frisch und natürlich
und von zu Hause instruiert, sich entsprechend anzupassen. Es gibt keine
Schwierigkeiten. Im Gegenteil empfindet sie das Leben in einem deutschen
Eigenheim mit Garten im Vergleich zu dem Appartement im vierten Stock einer
großen Stadt in Frankreich als recht angenehm. Ihr bester Sprachführer
am Anfang ist unser Jüngster (Sextaner). Drum schicken wir die beiden
oft miteinander los. Er zeigt ihr die Stadt. Ihm gegenüber legt sie
am schnellsten die Scheu ab, ihr in der Schule gelerntes Deutsch zu sprechen. |
Ueber
das Essen äußert sich Colette nach vierzehn Tagen, beinahe hätte
ich gesagt, daß sie es sich schlimmer vorgestellt hätte. Immerhin
war sie bzw. waren ihre Eltern gewarnt worden. Auf jeden Fall erklärt
sie uns, daß es ausgezeichnet ist und nicht dem entspricht, was man
ihr vorher erzählt hatte. Wir machen uns zwar keine Illusionen, denn
wir kennen die französische Küche und wissen, daß wir nicht
konkurrieren können. Praktisch ist es so, daß wir erklären:
Colette, du bist in Deutschland. Wir könnten zwar versuchen, die französische
Küche nachzuahmen, aber wir bleiben bei dem, wie und was wir auch sonst
essen. Und dann füllt sich als Modellfall unsere Aelteste den Teller
mit Fleisch, Kartoffeln und Gemüse, und Colette hält in der gleichen
Form mit. Das Essen scheint mir das große Abenteuer im fremden Land
zu sein. Kein Zweifel, für jeden Frankreichfahrer, der dort eingeladen
wird, das schönste Abenteuer! |
Zunächst
wird Colette geschont. Sie darf wie zu Hause in den Ferien, wir wissen das,
ruhig bis 10 oder gar 11 Uhr schlafen. Erst allmählich soll sie sich
an unseren Lebensrhythmus gewöhnen. Ungekehrt fällt es unseren
Kindern in Frankreich oft schwer, wenn sie dort so lange schlafen sollen,
ja sogar müssen aus dem einfachen Grund, weil sich im Haus noch nichts
rührt. Interessant wird es nun, wenn der deutsche Lebensrhythmus von
den jungen Franzosen Besitz ergreift. Unsere Kinder müssen ja noch
zur Schule. Nach einigen Tagen nehmen sie Colette mit und führen sie
ein. Nachmittags geht sie mit zum Einkaufen. Später schicken wir sie
allein zum Einkaufen. Dann ist sie ganz stolz. Sie begleitet unsere Töchter
zur Geigen- und Flötenstunde. Abends geht es zum Turnen in den Turnverein.
Zunächst schaut sie zu, beim zweiten Male macht sie schon mit. Sie
bekommt Farbe und Muskelkater. Das ist für Colette eine neue Welt.
Und dann gibt die Klasse ein Klassenfest. Jungen werden zum Tanzen eingeladen.
Auch da muß Colette mit. Sie hat zwar noch nie getanzt oder gar eine
Tanzstunde in unserem Sinne mitgemacht, aber sie hat natürliches Talent
und lernt leicht. Mit Hilfe des Plattenspielers wird sie zu Hause vorbereitet.
Ihr Debüt wird ein Erfolg. Sie ist begeistert. Und dann geben die Jungen
ein Klassenfest. Colette wird eingeladen und ist begehrt. Wir hatten ihr
den Begriff Mauerblümchen beigebracht. Am nächsten Tag fragten
wir sie: "Hat es Mauerblümchen gegeben?" "O nein",
sagt sie (sie sagt immer o nein, o ja - niemals einfach ja oder nein), "es
gab Mauerjungen!" Sie muß auch mit ins Schwimmbad. Im Schwimmen
ist sie Anfängerin. Unsere sind Sportschwimmer. Colette wird angeleitet.
Sie holt auf. Nach vier Wochen kann sie richtig schwimmen. |
Frankreich
ist härter mit seiner Jugend als wir mit unserer. Sie muß für
die Schule mehr und intensiver arbeiten. Einen Ausgleich gibt nur die Familie.
Die Schule mit ihren zentral gelenkten anonymen Prüfungen und 50 bis
60 Prozent Durchfällen beherrscht das Leben des französischen
Schülers und läßt kaum Raum für andere Dinge. |
Den
größeren Lebensbereich hat unsere Jugend.
|
Alois
Bießle
|