Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 21.4.1962, S. 7, "Wirtschaftsblatt"
Eine
neue Generation in Frankreich
Von Heinz Brestel
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PARIS,
Mitte April
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Ein
Bummel durch die großen Pariser Kaufhäuser in diesen Frühjahrstagen
überzeugt sicherer, als es die besten Statistiken hätten tun
können, wieviel sich in Frankreich in letzter Zeit geändert
hat. Das Warenangebot ist - verglichen mit dem Status vor einigen Jahren
- europäischer geworden. Man kann jetzt auch an der Seine zum Beispiel
deutsche Radioapparate in reicher Auswahl kaufen, italienische Badekostüme
bewundern oder holländische Spezialitäten in den Schaufenstern
finden. Dem deutschen Besucher mag diese Beobachtung nicht sonderlich
imponierend erscheinen, weil wir in dieser Beziehung durch unsere frühzeitige
Liberalisierung verwöhnt sind. Für die Franzosen bedeutet jedoch
die sichtbare Bereicherung des Angebots durch Einfuhren aus dem Gemeinsamen
Markt sehr viel. Auch bei ihnen demonstriert sich jetzt in den Schaufenstern
die Richtigkeit des liberalen Wirtschaftskurses und der engeren Zusammenarbeit
in Europa.
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Spricht
man heute mit französischen Unternehmern oder Bankiers, so wird erst
recht deutlich, was sich alles im Lande geändert hat. Das beginnt damit,
daß beinahe alle Franzosen von ihren Auslandsbesuchen schwärmen,
die sie geschäftlich planen oder schon realisiert haben. Während
es die Franzosen früher gewohnt waren, Geschäftsfreunde in Paris,
also auf heimatlichem Boden, zu empfangen, sind jetzt die Firmenchefs und
leitenden Angestellten geradezu von einem Reisefieber befallen. Heute trifft
man sie überall in den großen internationalen Hotels, sei es
in Mailand, Frankfurt, London oder Amsterdam. Franzosen gehören heute
auch zu den eifrigsten Messebesuchern in Europa. Sie sind überall bemüht,
neue Beziehungen und Freundschaften anzuknüpfen. Auch in den französischen
Büros und Geschäften - das ist unverkennbar - weht jetzt vielfach
ein anderer Wind. Die Angestellten in Paris zum Beispiel beklagen sich,
daß immer mehr Firmen darauf drängen, die traditionelle lange
Mittagspause abzuschaffen. Ein Kaufmann sagte uns: "Wir bedauern das
zwar, aber was sollen wir machen? Wir können es uns einfach nicht mehr
leisten, den Betrieb zu schließen, wenn unsere Konkurrenten in Deutschland
oder in den Beneluxländern am Telefon oder am Fernschreiber sitzen."
Eine solche Haltung wäre vor wenigen Jahren in Frankreich noch als
revolutionär empfunden worden. Heute paßt man sich an. |
Auf
Vorstandssitzungen und Verbandstagungen, aber selbst in der intimen Atmosphäre
der Pariser Salons, ist die geistige Auseinandersetzung mit dem wirtschaftlichen
Zusammenschluß Europas im Gange. Das Thema erregt die Gemüter.
Man erinnert sich der schweren Nachkriegsjahre Frankreichs. Draußen
der zehrende Kolonialkrieg, erst in Asien, dann in Afrika. Drinnen - bis
Ende 1958 - die ständige Inflation. Der glückliche Umstand, daß
die Stabilisierung des Francs und der neue Wirtschaftskurs mit dem Beginn
des Gemeinsamen Marktes zusammenfielen, hat es dem französischen Kaufmann
dann aber ermöglicht, sich sofort auf die neuen, größeren
Chancen einzustellen. Inzwischen ist praktisch die Vollkonvertibilität
der Währung eingeführt. Eine politische Lösung für Algerien
wurde gefunden. Der Weg nach Europa ist frei. Die Franzosen beginnen, ihre
Arbeit eindeutig auf dieses neue Ziel auszurichten.
Man macht im französischen Unternehmerlager auch keinen Hehl daraus,
daß Frankreich den enormen Aufstieg der Bundesrepublik als eine "Herausforderung"
an die französische Wirtschaft empfindet, ein Wort, das uns mehrfach
in Gesprächen, und sicherlich nicht zufällig, begegnete.
Wer sich der betont reservierten und teilweise resignierten Haltung französischer
Unternehmer gegenüber dem Gemeinsamen Markt vor einigen Jahren erinnert,
ermißt die Größe der Wandlung. Heute ist die französische
Wirtschaft wieder selbstbewußt. Die harte Währung hat wesentlich
dazu beigetragen. Die Binnenkonjunktur ist ausgezeichnet. Der Export floriert.
Die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie im EWG-Raum ist durch die Aufwertung
der Mark und des Guldens gewachsen. "Die Deutschen" sind für
die meisten französischen Unternehmer heute durchaus kein Alptraum
mehr. Die jüngste Konjunkturdiskussion in Bonn - so meinen viele Franzosen
- habe deutlich gezeigt, daß auch in Deutschland nur mit Wasser gekocht
werde. |
Der
Abbau von "Minderwertigkeitskomplexen", die es früher im
Lande gab, ist zwar zum größten Teil den veränderten äußeren
Umständen, der verbesserten politischen und monetären Lage, zu
verdanken. Aber erklärt dies allein die veränderte Haltung der
Franzosen zum Gemeinsamen Markt? Sie mögen es vielleicht selbst kaum
bemerken, aber für Ausländer, besonders für uns Deutsche,
ist es auffällig, daß sich drüben nicht nur die Gedanken,
sondern auch die Menschen, die in der Wirtschaft und in der Politik meinungsbildend
sind, erheblich "verjüngt" haben. In Frankreich ist - unmerklich
- eine neue Führungsschicht ins Rampenlicht gerückt, die man,
grob gesprochen, als "die Generation der Vierzigjährigen"
bezeichnen kann. Während sich bei uns noch die überwiegende Mehrzahl
der Führungspositionen in den Unternehmen und Verwaltungen in Händen
von Sechzigjährigen befindet, ist jenseits des Rheins schon eine andere
Generation "am Hebel". Es handelt sich praktisch um die Kriegsgeneration,
die offensichtlich dabei ist, auch einen "neuenTyp des Franzosen"
zu prägen. Diese jungen Leute sind voller Energie, schleusen neue Ideen
in die Fabriken und Kontore, arbeiten intensiv und wissen, was sie wollen.
Dabei treten sie gewöhnlich viel bescheidener auf als etwa Unternehmer
aus manchem anderen Land. Von Minderwertigkeitskomplexen gegenüber
den Nachbarn ist diese neue Generation nicht geplagt. |
Auch
in den Ministerien und den zentralen Verwaltungsbehörden haben viel
mehr junge Spitzenkräfte als etwa bei uns in Deutschland Fuß
gefaßt. Sie haben eine Reihe von wichtigen Reformen durchgesetzt,
die sich alle zum Vorteil der französischen Wirtschaft ausgewirkt haben.
Frankreich kann heute zweifellos von dem Unstand profitieren, daß
es seine Kriegsgeneration, die Jahrgänge von etwa 1915 bis 1925, nicht
im Zweiten Weltkrieg verloren hat, wie dies in Deutschland der Fall war;
und was uns jetzt erst so richtig zum Bewußtsein kommt. Unter Anleitung
Älterer ist die Jugend Frankreichs nach 1945 allmählich in den
Staat und in die Wirtschaft hineingewachsen. Inzwischen hat sich geräuschlos
die Wachablösung vollzogen, während bei uns die ältere Generation
immer noch warten muß, bis die ganz Jungen so weit sind, weil die
mittleren Jahrgänge weitgehend fehlen. Hier liegt offensichtlich eines
der Geheimnisse des so schnell vollzogenen Umdenkens Frankreichs in Richtung
Europa und den Gemeinsamen Markt, denn die junge Generation ist es, die
positiv zur Vereinigung Europas steht. Ohne Zweifel hat die "Verjüngung"
der Führungsschicht auch unmittelbare Auswirkungen auf die Modernisierung
der französischen Wirtschaft gehabt. |
Da
ist zum Beispiel die Familie, der seit Jahrzehnten ein Mittelbetrieb in
der keramischen Industrie gehört. Das Unternehmen wirft zwar laufend
genügend Gewinn ab, um die Besitzer zu ernähren. Aber an eine
grundlegende Modernisierung war bisher nicht zu denken. Die Ersparnisse
der Familie wurden nämlich - was bisher vielfach typisch für französische
Verhältnisse war - außerhalb des Betriebes, in Gold oder in Wertpapieren,
angelegt. Erst dem Sohn, der jetzt den Vater in der Unternehmensführung
ablöste, gelang der Durchbruch nach vorn. Er knüpfte Fusionsverhandlungen
mit der Konkurrenz an. Man tauschte gegenseitig die Kapitalanteile aus und
beschaffte sich über die Börse neues Kapital für den größeren
Betrieb. Das Unternehmen ist heute auf dem besten Wege, so leistungsfähig
zu werden, daß es den Wettbewerb im vergrößerten europäischen
Wirtschaftsraum nicht mehr zu fürchten braucht. Die alte Generation
hätte diese Transaktion, wie uns versichert wird, nie vollziehen können.
Die Familien der beiden Firmen sollen nämlich seit Jahrhunderten verfeindet
gewesen sein. Die Jungen haben diesen unfruchtbaren Zustand rasch beseitigt.
Ein Einzelfall? Vielleicht. Aber man kann heute ziemlich häufig ähnliche
Geschichten in Paris und in der Provinz hören. Das läßt
aufhorchen. Da wird zum Beispiel irgendwo mit der geheiligten Tradition
gebrochen, wonach nur Familienmitglieder die Leitung der eigenen Firma übernehmen
können. "Fremde", also "Manager", die nicht mehr
am Kapital des Unternehmens beteiligt sind, werden herangebildet und angestellt.
Das ist neu für Frankreich. Überall regt es sich in der Wirtschaft,
überall herrscht Aktivität. Viel haben dazu auch die Flüchtlinge
auf Afrika und Asien beigetragen, die oft das Salz in der Suppe der Unternehmen
und ganzer Branchen geworden sind. Diese Flüchtlinge bringen oft neue
Pläne und Vorstellungen mit, die gestern noch im französischen
Mutterland als allzu kühn empfunden worden wären. |
Frankreichs
Wirtschaft mag heute auf manchen Gebieten immer noch rückständig
sein. Aber Tag für Tag wird zielbewußt aufgeholt. Hart und
systematisch arbeitet vor allem die junge Generation für morgen und
übermorgen. Frankreichs Stellung im Gemeinsamen Markt wird ständig
stärker.
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